Cressen erinnerte sich nicht mehr an den Namen, mit dem man das Kraut in Asshai bedacht hatte, oder daran, wie die Giftmischer aus Lys den Kristall nannten. In der Citadel hieß er einfach nur der Würger. Man löste ihn in Wein auf, und die Wirkung bestand darin, daß er die Halsmuskeln enger zusammenzog, als jede fremde Hand es vermocht hätte und so die Luftröhre zudrückte. Man sagte, das Gesicht des Opfers laufe ebenso purpurrot an wie der kleine Kristall, der den Tod herbeiführte, aber das gleiche galt natürlich auch für einen Mann, der an einem Stück Essen würgte, an dem er sich verschluckt hatte.
Heute abend würde Lord Stannis mit seinen Gefolgsleuten speisen, mit seiner Hohen Gemahlin… und der roten Frau, dieser Melisandre von Asshai.
Ich muß ein wenig ausruhen, sagte sich Maester Cressen. Bei Einbruch der Dunkelheit werde ich meine ganze Kraft brauchen. Meine Hände dürfen nicht zittern, und mein Mut darf nicht wanken. Es ist eine schreckliche Tat, die ich begehe, und dennoch muß sie vollbracht werden. Falls es wirklich Götter gibt, werden sie mir verzeihen. In letzter Zeit hatte er so schlecht geschlafen. Ein kleiner Schlummer würde ihn für das bevorstehende Gottesurteil wappnen. Müde stolperte er zu seinem Bett. Als er die Augen schloß, konnte er noch immer das Licht des Kometen sehen, der in der Dunkelheit seiner Träume rot und feurig und lebendig leuchtete. Vielleicht ist es ja mein Komet, dachte er benommen, bevor der Schlaf ihn übermannte. Ein Omen, welches Blutvergießen und Mord voraussagt… ja…
Beim Erwachen war es dunkel, seine Schlafkammer war finster, und jedes Gelenk in seinem Körper schmerzte. Cressen stemmte sich hoch, in seinem Kopf pochte es. Er umklammerte seinen Stock und erhob sich unsicher. So spät ist es schon, dachte er. Sie haben mich nicht gerufen. Für gewöhnlich wurde er stets zu den Festen gerufen und nahe bei Lord Stannis am Tisch plaziert. Das Gesicht seines Lords tauchte verschwommen vor seinem inneren Auge auf, nicht der Mann, der er heute war, sondern der Junge, der im kalten Schatten stand, derweil die Sonne auf seinen älteren Bruder schien. Was auch immer er tat, Robert kam ihm zuvor und machte es besser. Der arme Junge… er mußte eilen, um seiner Willen.
Der Maester fand die Kristalle, wo er sie hatte liegenlassen, und sammelte sie von dem Pergament auf. Cressen besaß keinen hohlen Ring, wie man es den Giftmischern von Lys nachsagte, doch in den weiten Ärmel seiner Robe waren unzählige große und kleine Taschen eingenäht. Er versteckte die Würger in einer davon, riß die Tür auf und rief:»Pylos? Wo seid Ihr?«Da er keine Antwort erhielt, rief er abermals und lauter diesmal:»Pylos, ich brauche Hilfe. «Erneut bekam er keine Antwort. Das war eigentümlich; die Zelle des jungen Maesters befand sich nur eine halbe Wendel der Treppe tiefer, ganz gewiß in Rufweite.
Am Ende schrie Cressen nach den Dienern.»Beeilt euch«, trug er ihnen auf.»Ich habe zu lange geschlafen. Das Festmahl wird inzwischen begonnen haben… und sie trinken schon… Man hätte mich wecken sollen. «Was war bloß Maester Pylos widerfahren? Es war ihm ein Rätsel.
Wieder mußte er die lange Galerie überqueren. Der
Nachtwind wisperte durch die großen Fenster und trug den scharfen Geruch des Meeres heran. Überall auf den Mauern von Dragonstone flackerten Fackeln, auch unten im Lager; an Hunderten Feuern wurde gekocht, und es sah aus, als wäre ein Sternenfeld auf die Erde gefallen. Über ihnen leuchtete der Komet rot und bösartig. Ich bin zu alt und zu weise, um mich vor solchen Dingen zu fürchten, redete sich der Maester ein.
Die Doppeltür zur Großen Halle war in das Maul eines riesigen Steindrachen eingearbeitet. Hier ließ er die Diener zurück. Es wäre besser, wenn er allein eintrat; auf keinen Fall durfte er gebrechlich wirken. So lehnte er sich schwer auf seinen Stock, stieg die letzten Stufen hinauf und trat durch die Zähne des Drachenmaules. Zwei Wachen öffneten ihm die schweren roten Türflügel, und sofort verschluckten Cressen Lärm und Licht. Er trat hinein in den Schlund des Drachen.
Über das Geklapper von Messern und Tellern und die leisen Tischgespräche hinweg hörte er Flickenfratz singen:»… zum Tanzen, Mylord, zum Tanzen, Mylord«, wozu er mit seinen Kuhglocken klingelte. Das gleiche schreckliche Lied hatte er heute morgen gesungen.»Die Schatten kommen und bleiben, Mylord, und bleiben, Mylord. «An den unteren Tischen drängten sich Ritter, Bogenschützen und Söldnerhauptmänner, die Schwarzbrot in Fischeintopf tränkten. Hier hörte man kein lautes Lachen, keine wüsten Rufe, wie sie die Feste anderer Lords herabwürdigten; Lord Stannis erlaubte derlei Spektakel nicht.
Cressen ging weiter auf das erhöhte Podest zu, wo die Lords bei ihrem König saßen. Um Flickenfratz machte er einen weiten Bogen. Der Narr tänzelte und ließ die Schellen klingen und sah und hörte die Ankunft des Maesters nicht. Während Flickenfratz von einem Bein aufs andere hüpfte, stieß er mit Cressen zusammen und schlug dem alten Mann den Stock aus der Hand. Beide suchten fuchtelnd nach Halt und fielen gemeinsam zu Boden, woraufhin sich stürmisches Gelächter
erhob. Ohne Zweifel boten sie einen komischen Anblick.
Flickenfratz landete halb auf ihm, und das gescheckte Gesicht drückte sich dicht an Cressens. Beinahe hätte der Narr seinen Blechhelm mit dem Geweih und den Schellen verloren.»Unter dem Meer, fällt man nach oben«, verkündete er.»Ja, ja, ja, ha, ha, ha. «Kichernd wälzte sich Flickenfratz von ihm herunter, sprang auf die Füße und setzte seinen Tanz fort.
Der Maester versuchte zu retten, was zu retten war, lächelte schwach und wollte aufstehen, doch ein heftiger Schmerz schoß durch seine Hüfte, und halb fürchtete er bereits, er habe sich den Knochen abermals gebrochen. Starke Hände griffen ihm unter die Arme und zogen ihn auf die Beine.»Danke, Ser«, murmelte er und drehte sich um, weil er wissen wollte, welcher Ritter ihm zu Hilfe geeilt war…
«Maester«, sagte Lady Melisandre, in deren tiefer Stimme die Musik der Jadesee mitklang.»Ihr solltet besser auf Euch achtgeben. «Wie stets hatte sie sich von Kopf bis Fuß in Rot gewandet, ein langes, lockeres Kleid aus fließender Seide, das hell wie Feuer leuchtete und dessen Ärmel mit Bogenkanten gesäumt waren; durch Schlitze im Mieder schien dunkler, blutroter Stoff hindurch.
Um den Hals trug sie ein rotgoldenes Band, welches enger saß als selbst die Kette eines Maesters und das mit einem einzigen roten Rubin verziert war. Ihr Haar war nicht orange und auch nicht erdbeerfarben wie das gewöhnlicher Rothaariger, sondern glänzte im Licht der Fackeln wie poliertes Kupfer. Sogar ihre Augen waren rot… doch die Haut war zart und blaß, ohne Makel und weiß wie Sahne. Schlank war sie, anmutig, größer als die meisten Ritter, ihre Brüste voll, ihre Taille schmal, ihr Gesicht einem Herzen gleich geformt. Der Blick eines Mannes, der auf sie fiel, würde dort verweilen, selbst der eines Maesters. Viele nannten sie eine Schönheit. Doch sie war nicht schön. Sie war rot, furchtbar und rot.
«Ich… danke Euch, Mylady.«
«Ein Mann Eures Alters sollte aufpassen, wohin er die Füße setzt«, sagte Melisandre höflich.»Die Nacht ist dunkel und voller Schrecken.«
Er kannte diesen Satz, der aus einem Gebet ihres Glaubens stammte. Das ist unwichtig, ich habe einen eigenen Glauben.»Nur Kinder fürchten die Nacht«, erwiderte er. In diesem Moment hörte er Flickenfratz, der sein Lied aufs neue anstimmte.»Die Schatten kommen zum Tanzen, Mylord, zum Tanzen, Mylord, zum Tanzen, Mylord.«
«Was für ein hübsches Rätsel«, sagte Melisandre.»Ein kluger Narr und ein närrischer Weiser. «Sie bückte sich, hob Flickenfratz' Helm auf und setzte ihn Cressen auf den Kopf. Die Kuhschellen klingelten leise, während ihm der Blecheimer über die Ohren rutschte.»Eine Krone, die zu Eurer Kette paßt, Lord Maester«, verkündete sie. Um ihn herum erhob sich lautes Gelächter.
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