zur Decke. »Die oberen Lagerräume scheinen unter Wasser zu stehen. Aber es ist nicht so schlimm, wie es im ersten Moment aussah. Wenn es uns gelingt, das Leck abzudichten, können wir das Wasser
herauspumpen. Eine Menge Arbeit, aber es geht -hoffe ich.« Mike deutete mit einer Kopfbewegung auf Trautman, der mit dem Rücken zu ihnen am Fenster stand. »Warum ist er dann so niedergeschlagen?« »Er macht sich Vorwürfe«, antwortete Juan flüsternd. »Vorwürfe?« fragte Mike. »Weil ich uns um ein Haar alle umgebracht hätte«, sagte Trautman, ehe Juan antworten konnte. Mike und er hatten sehr leise gesprochen, aber Trautman hatte ihre Worte offensichtlich trotzdem verstanden. Er drehte sich nicht zu ihnen herum, als er weitersprach, aber Mike sah, daß er die Fäuste ballte. »Ich hätte das niemals tun dürfen«, fuhr er fort. »Ich ... ich weiß selbst nicht, was in mich gefahren ist. Ich war wie von Sinnen. Aber ... aber für einen Augenblick war es wieder wie früher. Wie damals, als Nemo noch an Bord dieses Schiffes war.«
Und sie sich als eine Art moderner Pirat betätigt hatten? dachte Mike. Keiner von ihnen hatte es jemals deutlich ausgesprochen, aber sie alle wußten, daß der sagenumworbene Kapitän Nemo auch eine Menge Dinge getan hatte, die nicht so ganz zu dem RobinHood-Image paßten, das er in den Erzählungen der Menschen später bekommen hatte. Es gab nicht wenige, die behaupteten, Nemo und seine Männer wären nichts als gemeine Piraten gewesen - was Mike natürlich empört von sich gewiesen hätte, vor allem jetzt, wo er Singh und Trautman kennengelernt hatte. Aber es gab Dinge, über die Trautman nicht gerne sprach, und was er nun andeutete, gehörte zweifellos dazu. Und das schlimmste war vielleicht, daß Mike zu wissen glaubte, was er meinte. Schließlich hatte er es selbst gespürt. Diese düstere, böse Verlockung der Macht und den fast unbändigen Wunsch, die Kräfte dieses phantastischen Schiffes einzusetzen, um ihren Gegner einfach zu zerstören, hatte er ebenso deutlich gefühlt wie Trautman -und wohl auch alle anderen, denn als er sich umsah, erblickte er auch auf Juans und Andrés Gesicht die gleiche Betroffenheit, die auch er verspürte. Einzig Ben sah nur trotzig drein. »Wir hätten nicht hierherkommen dürfen«, fuhr Trautman fort. »Ich hätte bei meinem Entschluß bleiben und dieses verdammte Schiff an der tiefsten Stelle des Meeres versenken sollen.« »Es ist ja nicht viel passiert«, sagte Mike. »Nicht viel passiert?« Trautman schnaubte. »Wir liegen zweihundert Meter unter dem Meeresspiegel fest. Um ein Haar hätte ich euch alle umgebracht. Und wenn es anders gekommen wäre, dann hätte ich vielleicht noch viel mehr Menschen getötet. Habt ihr eine ungefähre Vorstellung, wie viele Männer an Bord der LEOPOLD sind?« »Etwa tausendzweihundert«, sagte Ben - und wahrscheinlich hätte er noch mehr gesagt, hätte Juan ihm nicht einen so kräftigen Tritt vor das Schienbein verpaßt, daß er vor Schmerz die Luft anhielt. »Ja, und auch die hätte ich um ein Haar auf dem Gewissen«, sagte Trautman düster. »Ich hätte mein Wort niemals brechen dürfen. Ich habe Nemo geschworen, dieses Schiff nie wieder als Waffe gegen Menschen einzusetzen. Und er wußte, warum er mir diesen Schwur abverlangte.« »Wenn Winterfeld Atlantis findet, wird vielleicht noch viel größeres Unheil geschehen«, sagte Mike vorsichtig. »Wir werden ihn kaum davon abhalten können, seine
Suche fortzusetzen, wenn wir auf dem Meeresgrund
liegen und Wasser aus dem Schiff pumpen«, antwortete Trautman. »Wenn es das Schicksal so will, dann soll er Atlantis meinetwegen finden. Ich werde jedenfalls nicht mehr versuchen, mich in Dinge einzumischen, die mich nichts angehen.« Er straffte sich und wandte sich mit einem Ruck von der Schwärze jenseits des Fensters ab. »Wir werden die NAUTILUS reparieren, und danach setze ich euch im nächsten erreichbaren Hafen ab«, sagte er. Mike schwieg. Er spürte, daß es im Moment vollkommen sinnlos war, mit Trautman darüber zu reden. »Statt Trübsal zu blasen, sollten wir uns lieber den Schaden genauer ansehen und versuchen, den Kahn wieder flottzumachen«, sagte André laut. Er blickte von Trautman zu Singh und wieder zu Trautman. Singh nickte. Trautman schwieg, senkte aber zustimmend den Kopf. »Du hast recht«, sagte er schließlich. »Singh und ich gehen nach draußen und sehen uns den Schaden an. Ihr könnt inzwischen hier Ordnung schaffen.« »Ich komme mit«, sagte Mike spontan. »Ganz bestimmt nicht«, antwortete Trautman, aber Mike ließ sich so schnell nicht abwimmeln. »Wieso nicht?« fragte er. »Es ist für mich dort draußen nicht gefährlicher als für Sie. Und wenn Ihnen etwas passiert, sind wir sowieso alle geliefert.« »Es gibt dort draußen absolut nichts Interessantes zu sehen«, sagte Trautman mit einer Geste auf die Grabesschwärze jenseits des Fensters. »Außerdem ist es gefährlicher, als du denkst. Es ist nicht so einfach, sich in einem Taucheranzug zu bewegen.« »Dann wird es Zeit, daß ich es lerne«, sagte Mike. »Ich komme mit.« Und dabei blieb es.
Eine halbe Stunde später standen Trautman, Singh und er in der Tauchkammer tief unten im Rumpf der NAUTILUS, und Mike war sich nicht mehr so sicher, daß es eine gute Idee gewesen war, die beiden zu begleiten. Er hatte die Taucheranzüge, von denen die NAUTILUS ein gutes Dutzend an Bord hatte, schon vorher gesehen, aber es war etwas anderes, ob diese im Schrank hingen oder ob ein Mensch in ihnen steckte und sich bewegte. Trautman und Singh hatten kaum noch etwas Menschliches an sich: In den klobigen Anzügen sahen sie wie mißgestaltete Zyklopen mit einem riesigen kugelrunden Kopf aus Metall aus. Das Sichtfenster prangte wie ein einzelnes, viel zu großes starrendes Auge darin. In dem spiegelnden Glas konnte Mike sich selbst als verzerrten Schatten sehen; ein drittes, klobiges Ungeheuer mit einem viel zu kleinen Kopf und einem bleichen Gesicht. Trautman hob die Hand und winkte ungeduldig, und Mike griff nach seinem eigenen Helm und stülpte ihn über. Singh überprüfte gewissenhaft die Verschlüsse, erst dann gab er Trautman ein Zeichen, der sich schwerfällig herumdrehte und an einem kleinen Handrad drehte. Ein kreisrunder Ausschnitt öffnete sich im Boden. Wasser quoll daraus hervor und überspülte ihre Füße, aber der Druck in der luftdicht abgeriegelten Schleusenkammer verhinderte, daß es höher als einige wenige Fingerbreit stieg. Obwohl der Anzug gut isoliert war, spürte Mike, wiekalt das Wasser des Atlantik in dieser Tiefe war. Singh war der erste, der durch die Öffnung kletterte. Während er in den mit schwarzem, ölig aussehendem Wasser gefüllten Schacht hinabstarrte, bedauerte Mike, darauf bestanden zu haben, an dieser Erkundigungsexpedition teilzunehmen. Dort draußen gab es wirklich nichts zu sehen. Nur Dunkelheit, Schwärze und unbekannte Gefahren. Am liebsten hätte er Trautman signalisiert, daß er doch zurückbleiben wollte. Aber sein Stolz verhinderte, daß er jetzt noch einen Rückzieher machte. Tapfer kletterte er in das Loch im Boden hinab. Das Wasser schlug eisig und schwarz über ihm zusammen, und seine eigenen Atemzüge erzeugten in dem geschlossenen Kupferhelm unheimlich klingende Echos. Als er das Schiff verließ, wurde Mike durch das Licht von Singhs Handscheinwerfer geblendet, bevor der Sikh die Lampe in eine andere Richtung schwenkte. Singh stand nur einen Schritt von ihm, aber trotzdem erahnte Mike ihn mehr, als er ihn wirklich sah. Aber er begriff die Bedeutung der Geste, die Singh machte
- Mike löste den Scheinwerfer vom Gürtel seines Anzugs, schaltete ihn ein und schwenkte ihn herum. Was er sah, versetzte ihn in Erstaunen und Schrecken zugleich. Das Meer war zwar hier unten völlig lichtlos, aber keineswegs ohne Leben. Unter ihren Füßen quollen braune Wolken aus aufgewirbeltem Schlamm hoch, aber überall darin bewegte es sich, huschte es hin und her, verschwanden winzige silbrige Schatten aus dem Bereich der ungewohnten Helligkeit. Kleine Schwärme von Fischen stoben vor dem Licht davon, und Mike konnte erkennen, daß sie in einer regelrechten Wiese kniehoher, grauweißer Algen standen, die sich in der Strömung sanft hin und her wiegten. Das Leben hatte selbst in dieser Tiefe Fuß gefaßt, obwohl das Licht der Sonne niemals hierhergekommen war. Der Gedanke hatte etwas Beruhigendes. Aber Mike sah auch etwas, was ihn sehr beunruhigte. Die Tauchkammer befand sich im hinteren Drittel des Schiffes. Alles, was davor lag, hatte sich unter dem ungeheuren Gewicht der NAUTILUS tief in den schlammigen Grund gegraben - aber auf der anderen
Читать дальше