Allmählich kehrten auch die anderen Wachen zurück. Sie hatten die entlaufenen Pferde und Maultiere wieder eingefangen, und einer von ihnen band nun auch Ferdas Reittier fest. Ferda erhob sich und durchsuchte die Satteltaschen. Doch als Foix sich regte und stöhnte, drehte er sich rasch wieder um.
Foix schlug die Augen auf, schaute zum Himmel und auf den Ring an Gesichtern, die besorgt über ihm schwebten. Seine Augenbrauen zuckten. »Oh«, brummte er.
Ferda kniete neben seinem Kopf nieder. Foix’ Hände öffneten und schlossen sich hilflos. »Wie fühlst du dich?«, fragte Ferda schließlich vorsichtig.
Foix blinzelte. »Sehr seltsam.« Ungeschickt bewegte er eine Hand — es sah aus wie ein Schlag mit einer Pranke. Dann rollte er sich auf die Seite und versuchte aufzustehen. Stattdessen landete er auf allen vieren. Er brauchte zwei weitere Anläufe, ehe er endlich auf die Füße kam. Dy Cabon stützte ihn an einem Arm, Ferda am anderen. Wieder blinzelte Foix und bewegte ein paar Mal prüfend den Unterkiefer. Er führte die Hand zum Mund, verfehlte ihn und versuchte es noch einmal. Seine Finger fuhren die Linien nach, als müsse er sich davon überzeugen, dass er ein Kinn hatte und keine Schnauze. »Was ist geschehen?«
Niemand wagte zu antworten. Mit wachsendem Unbehagen schaute Foix sich um und musterte die von Grauen erfüllten Gesichter.
Endlich erklärte dy Cabon: »Wir nehmen an, dass Ihr von einem Dämon befallen wurdet. Er hatte den Körper des Bären beherrscht, der uns angriff.«
»Der Bär war bereits todgeweiht«, ergänzte Ista. »Ich habe noch versucht, Euch zu warnen.«
»Sagt mir, dass das nicht wahr ist!«, stieß Ferda hervor.
Foix’ Gesichtsausdruck wurde ruhig, nach innen gewandt; seine Augen blickten kurze Zeit ins Leere. »Oh«, sagte er schließlich. »Ja. Es ist … ist es das, was …«
»Was?« Dy Cabon versuchte, mit ruhiger Stimme zu sprechen, konnte seine Sorge aber nicht verhehlen.
»Da ist etwas … in meinem Kopf. Verängstigt. Zusammengekauert. Als wolle es sich in einer Höhle verstecken.«
»Hm.«
Offensichtlich würde Foix sich nicht gleich in einen Bären oder einen Dämon verwandeln, sondern erst einmal der verwirrte junge Mann bleiben, der er nun war. Deshalb entfernten die anderen sich ein paar Schritte von dem toten Bären und setzten sich auf den Boden, um die Karten zu studieren. Einige Wachen unterhielten sich mit gesenkter Stimme über den Kadaver. Sie kamen zu dem Schluss, dass das schäbige Fell die Mühe des Abziehens nicht wert war. Allerdings rissen sie dem Tier die Zähne und Krallen aus und behielten sie als Andenken, bevor sie den massigen Leib von der Straße schleiften.
Ferda suchte eine Karte des Umlands heraus und glättete sie über einem großen, flachen Felsbrocken. Mit dem Finger fuhr er eine Route entlang. »Ich glaube, der schnellste Weg nach Maradi führt uns erst noch einmal weitere dreißig Meilen diese Straße entlang, bis zu diesem Dorf. Dann biegen wir ab, fast geradenwegs nach Osten.«
Dy Cabon blickte zur Sonne empor, die im Westen beinahe schon hinter den Berggraten versunken war, obwohl der Himmel immer noch von einem tiefen, lichten Blau war. »Das schaffen wir nicht mehr vor Einbruch der Dunkelheit.«
Ista führte zaghaft einen bleichen Finger zur Karte. »Ganz in der Nähe liegt die Kreuzung, von der aus wir in den Geburtsort dieser Heiligen gelangen. Dort haben wir schon Essen, Unterkunft und Futter für die Tiere vorbereiten lassen. Wir könnten morgen früh aufbrechen.« Und dort standen kräftige Mauern zwischen ihnen und weiteren Bären. Wenn auch nicht zwischen ihnen und dem Dämon — eine Überlegung, die Ista wohlweislich für sich behielt.
Ferda runzelte die Stirn. »Das wären sechs weitere Meilen, jeweils hin und zurück. Und noch mehr, wenn wir uns mal wieder verirren.« Eine ähnlich trügerische Straßengabelung hatte sie früher am Tag bereits eine Stunde verlieren lassen. »Eine halbe Tagesreise umsonst. Wir haben genug Essen und Futter dabei, um eine Nacht durchzustehen. Wir können unsere Vorräte auffrischen, sobald wir nach Osten abbiegen …« Er zögerte und fügte ein wenig zurückhaltender hinzu: »Das heißt natürlich, falls Ihr willens seid, die Mühsal einer Nacht im Freien auf Euch zu nehmen, Majestät. Zumindest scheint das Wetter zu halten.«
Ista schwieg. Ihr missfiel dieser Plan, aber noch sehr viel mehr missfiel ihr die Andeutung, dass sie ihre eigene Bequemlichkeit über die offensichtliche Notlage eines ihrer treuesten Gefolgsleute stellen könnte. Die Schar aufteilen und die schnellsten Reiter mit Foix voraussenden? Dieser Einfall gefiel ihr ebenso wenig. »Ich überlasse die Entscheidung Euch.«
»Kannst du reiten?«, fragte Ferda seinen Bruder.
Foix saß mit gerunzelter Stirn und nach innen gerichtetem Blick da. »Ah … nicht schlechter als sonst. Mir tut der Hintern weh, aber das hat nichts mit dem … mit der anderen Sache zu tun.« Er verstummte kurz und fügte hinzu: »Außer vielleicht indirekt.«
In entschlossenem, militärischem Tonfall verkündete Ferda: »Dann lasst uns heute Abend so weit und so schnell voranziehen, wie wir nur können!«
Die kleine Versammlung neben dem Felsblock ließ zustimmendes Gemurmel hören. Ista presste die Lippen aufeinander.
Sie setzten Foix wieder auf sein unruhiges Pferd. Es brauchte zwei Männer, um das Tier zu halten, das aufgeregt tänzelte und schnaubte. Doch als sie aufbrachen, beruhigte es sich. Dy Cabon und Ferda ritten dicht neben Foix, der eine links, der andere rechts. Eine beschützende Geste. Zu spät.
Ista hielt sich hinter ihnen, als sie der Straße folgten — oder was hier als Straße durchging. Für kurze Zeit hatte sie die brennende Gegenwart des Dämons ganz deutlich gespürt, nun aber war die Empfindung wieder gedämpft. Gedämpft durch die Materie, die zwischen ihnen lag? Oder verbarg sich das Geschöpf mit voller Absicht in seinem neuen, fleischlichen Unterschlupf? Oder lag es an ihr selbst? Sie hatte ihre Empfindsamkeit lange unterdrückt; nun fühlte es sich an, als würde sie einen Muskel benutzen, der lange Zeit geruht hatte. Es schmerzte.
Lord dy Cazaril behauptete, dass die Welt des Geistes und die der Materie sich zueinander verhielten wie die beiden Seiten derselben Münze. Die Götter existierten nicht in weiter Ferne, an irgendeinem anderen Ort, sondern genau hier, allgegenwärtig, unmittelbar hinter einer Biegung der Wahrnehmung verborgen, die sich dem verstandesmäßigen Begreifen entzog. Eine Präsenz, die durchdringend und unsichtbar zugleich war, wie Sonnenlicht auf der Haut — als stünde man nackt und mit verbundenen Augen im Schein einer unvorstellbaren Mittagsstunde.
Mit den Dämonen verhielt es sich ebenso, obwohl sie eher so waren wie Diebe, die ihre Hand durch ein Fenster steckten. Was also befand sich dort, wo Foix war? Wenn beide Brüder hinter sie treten würden, wüsste sie dann, wer welcher von beiden war, ohne sich umzudrehen?
Sie schloss die Augen, um ihre Wahrnehmung zu prüfen. Sie hörte das Knarren des Sattels, das Stampfen der Reittiere, das feine Knirschen, als ein Huf auf einen Kiesel traf. Sie roch ihr Pferd, ihren Schweiß, den kühlen Duft der Kiefern … und sonst nichts mehr.
Und dann fragte sie sich, was der Dämon wohl sah, wenn er Ista anblickte.
Sie schlugen ihr Lager am Ufer eines Flusses auf. Es war gerade noch hell genug, um Feuerholz zu suchen, das die Männer herbeischafften, während die Wachen für Ista und Liss eine Art Laube errichteten, einen Unterschlupf aus Ästen und Zweigen, den sie notdürftig mit gelbem, trockenem Gras polsterten. Die Konstruktion wirkte nicht sonderlich bärensicher.
Foix wollte sich nicht wie ein Schwerverwundeter behandeln lassen und bestand darauf, ebenfalls auf die Suche nach Brennholz zu gehen. Ista behielt ihn insgeheim im Auge, und ihr fiel auf, dass dy Cabon dasselbe tat. Foix hob ein großes Holzscheit an, nur um festzustellen, dass es verrottet war und der Boden darunter von Maden wimmelte. Er starrte auf seinen Fund, wobei sich ein seltsamer Ausdruck auf sein Gesicht legte.
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