Es ist kein Bär!
Atemlos und fasziniert, stolperte Ista näher heran. Trotz des anfänglichen Eindrucks von beängstigender Kraft war der Bär schwächlich und krank. Aus der Nähe war zu erkennen, dass der Pelz räudig war und in großen Büscheln ausfiel. Das Tier war von gewaltigem Körperbau, doch seine Muskeln wirkten ausgezehrt. Er bewegte sich auf zittrigen Beinen und schaute nun zu Ista empor, als wäre er von ihr ebenso fasziniert wie sie von ihm.
Sie hatte den Eindruck, dass die Essenz seines Wesens, seine Bärenhaftigkeit, von innen heraus verzehrt wurde. In den Augen, die ihren Blick erwiderten, glühte eine Intelligenz, die nichts mit dem Verstand eines Tieres zu tun hatte. Ein Dämon hat von ihm Besitz ergriffen und ihn fast schon verschlungen. Und nun braucht er einen neuen Wirt.
»Wie kannst du es wagen«, stieß Ista zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Du gehörst nicht in diese Welt, Dämon. Geh zurück zu deinem verfluchten Herrn.«
Sie hielten einander mit Blicken fest. Ista trat näher heran. Der Bär wich vor dem leichenblassen Jüngling am Boden zurück. Ein weiterer Schritt. Und noch einer. Der Bären-Dämon drückte den Kopf bis fast zum Boden herab. Seine Augen waren weit aufgerissen und weiß umrandet. Er schnüffelte und wich ängstlich immer weiter zurück.
»Ich komme, Majestät!« Mit einem atemlosen Ruf erschien Foix am Rande von Istas Blickfeld. Sein Mantel bauschte sich, und er führte sein Breitschwert in einem kraftvollen Bogen, legte seine ganze Kraft in den Schlag. Seine Lippen waren verzerrt und entblößten die zusammengebissenen Zähne.
»Foix, nein!«, rief Ista. Doch es war zu spät.
Mit einem einzigen Schlag trennte die schwere Klinge dem Bären den Kopf von den Schultern und bohrte sich in die Erde darunter. Ein Blutschwall schoss aus dem Hals der Kreatur, und der Kopf rollte über den Boden davon. Eine der Vorderpranken zuckte; dann fiel der massige, pelzige Leib zu einem kraftlosen Bündel zusammen.
Ista glaubte, den Dämon mit fast allen Sinnen wahrzunehmen. Es war eine greifbare Präsenz, eine blutrote Lohe, ein Geruch wie von glühendem Metall. Es wälzte sich auf Ista zu, um dann in einer Art instinktivem Entsetzen plötzlich vor ihr zurückzuweichen. Einen verzweifelten Augenblick lang zögerte es zwischen Foix und dem Jungen am Boden. Dann strömte es in Foix hinein.
»Was …«, brachte Foix in einem seltsam beiläufigen Tonfall hervor. Dann verdrehte er die Augen und brach zusammen.
Liss gewann als Erste die Kontrolle über ihr Reittier zurück, galoppierte zu den anderen und schwang sich atemlos, verwirrt und besorgt von ihrer Fuchsstute. Pejar stöhnte und setzte sich auf. Sprachlos starrte er zu dem enthaupteten Bären hinüber und hob verwundert die Brauen, als er Foix neben dem Kadaver liegen sah, aus dem immer noch warmes Blut den Boden tränkte. »Herr?«
Ista war übel nach ihrem Sturz vom Pferd, doch es war die Berührung des Dämons, die ihr Innerstes erschüttert hatte. Ihr Geist fühlte sich seltsam losgelöst vom Leib. Sie zog den Mantel aus, faltete ihn zusammen, kniete bei Foix nieder und versuchte, seinen schweren Körper herumzudrehen und ihm das Bündel als Kissen unter den Kopf zu schieben.
»Wartet, Majestät«, sagte Liss. »Hat er beim Sturz vom Pferd das Bewusstsein verloren? Er könnte gebrochene Knochen haben …«
»Er ist vom Pferd gefallen? Davon habe ich gar nichts mitbekommen.« Das war gewiss eine Erklärung dafür, warum er zuerst bei dem Bären gewesen war. »Nun, jedenfalls hat er sich dabei nicht verletzt. Er hat das Tier erschlagen.« Umso schlimmer.
»Er ist seinem Pferd glatt über die Kruppe gerutscht und auf dem Hinterteil gelandet. Ich nehme an, an der Stelle gibt es keine Knochen, die er sich brechen könnte.« Liss wand sich einen Zügel um den Arm und sicherte ihr schnaubendes und scheuendes Pferd. Dann kniete sie neben Ista nieder. Sie wandte den Kopf hierhin und dorthin und musterte beeindruckt die Zeugnisse des Kampfes, den Kadaver, das Schwert und den weiter entfernt liegenden Kopf des Bären. »Bei den fünf Göttern, was für ein Schlag.« Sie blickte auf Foix. Sein Gesicht war so grau wie Hafergrütze. »Aber was ist los mit ihm?«
Ferda ritt als Nächster heran. Auch er warf einen Blick auf die Szenerie, sprang vom Pferd und dachte gar nicht mehr daran, es festzuhalten. »Foix! Majestät, was ist geschehen?« Er kniete ebenfalls nieder und tastete seinen Bruder ab und rechnete offenbar damit, gebrochene Knochen oder eine aufgerissene Wunde zu entdecken, die von einem Prankenhieb stammte. Als er keine Verletzungen fand, kniff er die Augen zusammen und versuchte, Foix herumzudrehen. Dy Cabon kämpfte sich schnaufend heran. Sein Maultier hatte er unterwegs verloren.
Ista hielt Ferda am Arm fest. »Euer Bruder hat keinen Schlag abbekommen.«
»Er hat dem Bär den Kopf abgeschlagen. Dann ist er einfach … umgefallen«, bestätigte Pejar.
»War das Tier tollwütig, uns so anzugreifen?«, stieß dy Cabon hervor, beugte sich vor, stützte die Hände auf die Knie und blickte sich ebenfalls um.
»Der Bär war nicht tollwütig«, verkündete Ista tonlos, »sondern von einem Dämon befallen.«
Dy Cabon riss die Augen auf. Eindringlich musterte er ihr Gesicht. »Seid Ihr sicher, Majestät?«
»Ganz sicher. Ich habe es gespürt.« Und es hat mich gespürt.
Ferda wippte auf den Fersen. Offenbar hatte es ihm die Sprache verschlagen.
»Wo ist …« Dy Cabons Stimme verlor sich, als er Foix betrachtete, der auf dem Boden lag, als hätte jemand ihn niedergeschlagen. »Der Dämon ist doch nicht etwa in ihn gefahren?«
»Doch.« Ista befeuchtete sich die Lippen. »Ich wollte Foix aufhalten, aber er sah wohl nichts anderes mehr als einen vermeintlich tollwütigen Bären, der mich allem Anschein nach bedrohte.«
Dem Anschein nach?, wiederholten dy Cabons Lippen lautlos. Er musterte sie eindringlicher.
Der sichtlich geschockte Ferda sah aus, als wollte er gleich in Tränen ausbrechen. »Was wird nun aus Foix, Hochwürden?«
»Das hängt davon ab.« Dy Cabon schluckte. »Es hängt ganz davon ab, mit was für einer Art von Dämon wir es zu tun haben.«
»Er war von bärenhafter Natur«, berichtete Ista, immer noch mit derselben tonlosen Stimme. »Er mag vielleicht schon andere Geschöpfe verzehrt haben, bevor er den Körper des Bären übernahm, doch ganz gewiss konnte er bisher noch nicht das Wesen oder den Verstand eines Menschen in sich aufnehmen. Er besaß nicht die Gabe der Sprache.« Nun aber stand er vor einem üppigen Festmahl an Worten und Wissen. Wie lange würde es dauern, bis er sich darüber hermachte?
» Das wird sich ändern«, murmelte dy Cabon und sprach damit Istas Gedanken aus. Er atmete tief durch. »Erst einmal wird gar nichts geschehen«, beteuerte er dann, doch Ista gefiel der übertrieben zuversichtliche Tonfall nicht, den er dabei anschlug. »Foix kann sich dagegen wehren. Wenn er es will. Ein unerfahrener Dämon braucht Zeit, um an Stärke zu gewinnen und zu lernen.«
Um sich tiefer einzugraben, ergänzte Ista in Gedanken. Um die Stärke einer Seele zu erproben und sich auf die Belagerung vorzubereiten. Und bedeutete das, dass ein erfahrener Dämon, gemästet durch die Erfahrungen vieler Seelen, einen Menschen binnen eines Atemzuges überwältigen konnte?
»Trotzdem sollten wir ihm so wenig Zeit wie möglich lassen, um … so wenig Zeit wie möglich eben. Ein Tempel bei einer herzoglichen Residenz dürfte die Mittel und die erforderlichen Geistlichen haben, um damit fertig zu werden. Wir müssen Foix sofort zum Erzprälaten von Taryoon bringen und …« Er stockte. »Aber das würde eine Woche dauern.« Er blickte über die Hügel hinweg in Richtung der fernen Ebene. »Der Tempel in Maradi ist näher. Ferda, wo sind Eure Karten? Wir müssen den schnellsten Weg suchen.«
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