Er überwand seinen Ekel, trank den Becher hastig leer und stellte ihn ab. Unvermittelt beugte er sich vor, presste beide Hände an die Brust und zitterte plötzlich wie Espenlaub.
Noch bevor er umkippen konnte, stand Rupert neben ihm und hielt ihn an den Schultern fest. Der Mann schien nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen; er war leicht wie eine Feder.
Und dann spürte Rupert ein Kribbeln im Nacken, als das Fleisch des Zauberers sich unter seinen Händen wand. Ungläubig beobachtete er, wie neue Muskelstränge die schlaffe Haut ausfüllten. Die Schultern wurden breiter, der krumme Rücken streckte sich, dass die Wirbel knirschten und knackten wie feuchte Holzscheite im Feuer. Das graue Haar wurde dichter und dunkler. Der Zauberer richtete sich mit einem tiefen Seufzer auf. Der spärliche Bart fiel ab, und darunter kam junge, vor Gesundheit strotzende Haut zum Vorschein.
Tiefschwarzes Haar wallte ihm bis auf die Schultern, ein verwegener Schnurrbart schmückte seine Oberlippe, und seine Statur hätte einem Dreißigjährigen alle Ehre gemacht.
Als er Ruperts Verwirrung sah, grinste er breit.
»Was nützen die schönsten Verwandlungskünste, wenn man für sich selbst nichts tun kann, nicht wahr, mein Junge?«
Rupert nickte, immer noch sprachlos.
»Nun denn«, fuhr der Zauberer geschäftig fort, »ich nehme an, Sie sind wegen des Dunkelwaldes gekommen.«
»Darüber sprachen wir bereits«, sagte Rupert.
»Tatsächlich? Mein Gedächtnis ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Ich habe mir fest vorgenommen, in dieser Richtung an mir zu arbeiten, aber leider vergesse ich es immer wieder. Also – unser Hauptproblem ist nicht der Dunkelwald, sondern der Dämonenfürst.«
»Zu diesem Schluss sind wir auch gelangt«, erklärte Rupert.
Der Zauberer starrte ihn mit einem durchdringenden Blick an. »Unterbrechen Sie mich noch einmal, und ich verwandle Sie in ein Erdferkel! Verstanden?«
Rupert nickte. Er wusste nicht genau, wie ein Erdferkel aussah, verspürte aber keine gesteigerte Lust, es im praktischen Versuch herauszufinden.
»Der Dämonenfürst«, sagte der Große Zauberer nachdenklich. »Das Böse in Menschengestalt, ungeboren, seelenlos.
Eines jener Wesen, die zwischen den Welten auf der Lauer liegen. Seine Macht wächst, wenn der Blaue Mond zunimmt.
Wir müssen ihn besiegen, ehe der Mond voll ist… ehe die Wilde Magie auf das Land losgelassen wird…« Die Stimme versagte ihm, und er ließ die Schultern hängen. Trotz seiner neuen Jugend wirkte er auf einmal kraftlos und müde. »Hört euch das an! Ich rede, als könnten wir den Dämonenfürsten überwinden. Selbst in meiner besten Zeit war ich ihm unterlegen. Und ich bin weit von meiner besten Zeit entfernt.
Meine Macht beruht auf der Hohen Magie, aber der Dunkelwald ist ein Werk des alten Zaubers, der Wilden Magie.«
»Wo liegt da der Unterschied?«, wollte Rupert wissen.
Der Große Zauberer lächelte düster. »Die Hohe Magie ist beherrschbar. Die Wilde Magie dagegen erkennt keine höhere Macht als sich selbst an.« Er unterbrach sich plötzlich und zuckte mit den Schultern. »Ach, zum Henker, ich weiß nicht.
Im Arsenal der Burg warten immer noch die Schwerter der Hölle. Vielleicht schaffen wir es damit.«
Zum ersten Mal merkte Rupert, dass der mächtige und Ehrfurcht gebietende Große Zauberer ebenso unsicher und ängstlich war wie er selbst, wenn es um den Dunkelwald ging. »Zeigen Sie mir einen Weg, die Finsternis zu bekämpfen, und ich folge Ihnen überallhin!«, rief er. »Selbst in den Dunkelwald, wenn es sein muss!«
Der Zauberer musterte ihn und grinste plötzlich. »Sie sind mehr der zupackende Typ, was?«
Rupert erwiderte das Grinsen. »Ich hatte gute Lehrmeister,«
»Also gut«, sagte der Zauberer entschlossen. »Lassen wir es auf einen Versuch ankommen. Vielleicht haben wir Glück.«
»Können wir jetzt aufbrechen?«, fragte der Champion.
»Die Zeit läuft uns davon.«
»Aber sicher«, entgegnete der Zauberer liebenswürdig. Er sah Rupert an. »Wer von uns ist schneller am Fenster?«
»Eine Frage noch, Sir«, sagte Rupert. »Warum gibt es hier eigentlich keine Türen?«
»Fenster sind leichter zu verteidigen«, erklärte der Zauberer mit einem verschlagenen Lächeln. »Außerdem brauchte ich bis jetzt nie eine Tür. Ich hatte keine Sehnsucht, den Turm zu verlassen.« Er sah sich wehmütig in dem überfüllten Raum um. »Welch ein Chaos! Ich wollte immer mal richtig ausmisten, aber ich kam einfach nicht dazu. Hmm. Vielleicht sollte ich die Tiere in Winterschlaf versetzen, ehe ich fortgehe. Ist sicher besser, als sie… nun ja, es wird schon alles klappen.«
Er schniefte und zuckte die Achseln, ehe er an das nächst gelegene Fenster trat. »Wissen Sie, Rupert, ich hätte nie die Zauberer-Akademie verlassen sollen. Ich war voll und ganz zufrieden damit, Gold in Blei zu verwandeln.«
»Äh – Blei in Gold, wollten Sie sagen?«
»Deshalb musste ich ja meinen Hut nehmen«, gestand der Große Zauberer.
Der Wall aus wirbelndem Schnee bedrängte den Schwarzen Turm, und die Nachtluft war bitterkalt. Eine dünne Silberschicht aus Raureif bedeckte das Gras und glitzerte auf dem Mauerwerk des alten Turms. Der Zauberer brach auf, der Sommer war vorbei, und schon forderte der öde Mittwinter das Land, das ihm so lange versagt geblieben war. Hin und wieder erspähte Rupert unheimliche dunkle Schatten, die zielstrebig durch den heulenden Schneesturm huschten und darauf zu lauern schienen, dass der Große Zauberer endlich die Grenzen seines Schutzrings überschritt. Ruperts Miene verdüsterte sich, und seine Hand blieb in der Nähe des Schwertgriffs. Seine Männer waren von ihrem Marsch durch den Dunkelwald erschöpft, zerschlagen und verwundet, und nun musste er sie bitten, den Weg noch einmal auf sich zu nehmen. Der Zauberer hatte von einer Abkürzung gesprochen, mit der sich die lange Nacht vermeiden ließ, aber Rupert kannte die Karten. Es gab nur eine Route, die ihn und sein Gefolge noch vor dem Vollmond zurück in die Residenz brächte – den Pfad, den sie selbst durch den Dunkelwald geschlagen hatten.
»Ich habe Hunger«, sagte das Einhorn.
»Du hast immer Hunger«, entgegnete Rupert. »Wie kannst du jetzt an Futter denken?«
»Übung«, meinte das Einhorn. »Worauf warten wir eigentlich noch? Ich hasse es, so herumzuhängen.«
»Nur keine Eile! Wir kehren noch früh genug in den Dunkelwald zurück.«
»Wenn ich es mir recht überlege, habe ich doch nichts dagegen, noch ein Weilchen herumzuhängen.«
Rupert lachte trocken und tätschelte den Hals des Einhorns. »Diesmal ist es sicher nur halb so schlimm. Der Große Zauberer begleitet uns.« Wie auf dieses Stichwort kam der Zauberer näher. Er hatte ein Glas in der Hand und sang ein Lied, das den Hofdamen sehr missfallen hätte. Das Einhorn musterte ihn aufmerksam.
»Das ist der Große Zauberer? Unsere ganze Hoffnung gegen den Dämonenfürsten?«
»Ja.«
»Dann ist die Kacke echt am Dampfen!«
»Leise!«, zischte Rupert und trat rasch auf den Zauberer zu, um ihn zu begrüßen.
»Ach, Rupert!«, sagte der Zauberer geistesabwesend und trank sein Glas leer. »Sind Ihre Leute zum Aufbruch bereit?«
»Ja, Sir. Es sind tüchtige Männer. Sie können sich darauf verlassen, dass sie uns den Rücken freihalten, sobald wir in den Dunkelwald eindringen.«
»Das glaube ich gern«, erwiderte der Zauberer. »Aber es wird zum Glück nicht nötig sein. Wir kehren nicht durch den Dunkelwald zurück. Ich befördere uns direkt auf die Burg des Waldkönigreichs.«
Ruperts Mut sank. Sein Mund fühlte sich plötzlich sehr trocken an. »Das ist Ihre Abkürzung? Teleportation?«
»Sie haben die Sache voll erfasst, mein Junge!«
Rupert kämpfte mühsam gegen seinen aufsteigenden Zorn an. »Vielleicht täusche ich mich, Sir, aber soviel ich weiß, kann bei diesen Teleportationen eine ganze Menge schief gehen.«
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