Er berief die Magier von der Zauberer-Akademie zu sich, aber die Macht des Großen Zauberers war größer als alle ihre Beschwörungen und Flüche. Er schickte Soldaten aus, um den Turm des Zauberer niederzureißen. Sie kehrten nie zurück.
Und so wandte sich der König schließlich anderen Dingen zu, und der Zauberer blieb sich selbst überlassen. Die Zeit verging. Düstere Geschichten spannen sich um den Schwarzen Turm und die Magie des Großen Zauberers. Es gab viele Geschichten, aber nur wenige Fakten, und da der Zauberer seinen Turm in all den Jahren nicht verließ, verblasste die Realität zur Legende, und er verwandelte sich in eine jener Schreckgestalten, mit denen Mütter ihren ungehorsamen Kindern zu drohen pflegten.
Er war ein Verräter. Ein Verräter, ein Feigling und ein Trunkenbold.
Leise Schritte kamen näher, und der Prinz warf sich herum, die Hand am Schwertgriff. Der Champion starrte an Rupert vorbei zum Turm hinauf und lächelte kalt.
»Schlangen hausen in ihren Löchern, Ratten hausen in ihren Nestern, und der Zauberer haust immer noch in seinem Turm. Er hat das Tageslicht schon immer gescheut. Haben Sie die Tür gefunden, Sire?«
»Es scheint keine zu geben, Sir Champion.«
Der Champion zog die Augenbrauen hoch, beugte sich vor und klopfte vernehmlich gegen das erstbeste Fenster. Eine Zeit lang rührte sich nichts. Dann aber flogen die Läden auf, ein grauhaariger Alter im schwarzen Talar funkelte den Prinzen und den Champion gleichermaßen zornig an und keifte:
»Verschwindet!« Dann schlug er die Läden wieder zu. Rupert und der Champion wechselten einen Blick.
»Wir versuchen es erst mal mit Höflichkeit«, sagte Rupert entschlossen. »Sonst müssen wir am Ende die Nacht noch im Freien verbringen.«
Der Champion nickte und klopfte noch einmal an die Fensterläden. »Bitte, kommen Sie heraus, Großer Zauberer! Wir müssen Sie unbedingt sprechen.«
»Nein!«, kam die gedämpfte Antwort.
»Wenn Sie nicht freiwillig herauskommen, holen wir Sie mit Gewalt!«, erklärte der Champion ruhig.
»Sie und welches Heer?«
»Wir und dieses Heer!«
Wieder flogen die Läden auf, und der Große Zauberer spähte an Rupert und dem Champion vorbei zu den fünfundzwanzig Gardesoldaten hinüber, die sich am Fuß des kleinen Hügels versammelt hatten. Der Prinz drehte sich um und versuchte seine Leute mit den Augen des Zauberers zu sehen.
Ihre Rüstungen waren verbeult und blutverschmiert, aber sie umklammerten ihre Waffen mit grimmiger Entschlossenheit.
Sie wirkten erschöpft, verwahrlost und doch ungeheuer bedrohlich – keine Eskorte, sondern eher eine Räuberbande. Der Zauberer rümpfte die Nase und richtete den Blick starr auf den Champion.
»Das sind Ihre Kämpfer?«
»Ja.«
»Wenn sie nicht sofort von meinem Rasen verschwinden, verwandle ich sie allesamt in Frösche!«
Wieder knallte der Zauberer die Fensterläden zu. Rupert sah den Champion an.
»Was tun wir jetzt?«
»Hm«, meinte der Champion nachdenklich. »Ich sage den Männern am besten, dass sie von seinem Rasen verschwinden sollen.«
Rupert sah dem Champion wütend nach. Manchmal fragte er sich allen Ernstes, auf welcher Seite der Recke eigentlich stand. Er seufzte, trat zögernd zu dem Fenster und klopfte höflich.
»Großer Zauberer? Sind Sie noch da, Sir?«
Es kam keine Antwort, und die Läden blieben geschlossen.
Klasse, dachte Rupert angesäuert. Jetzt haben wir ihn vergrault. Er warf einen Blick über die Schulter. Die Männer hatten auf Befehl des Champions die Schwerter weggesteckt und sich ein Stück vom Turm entfernt. Sie bemühten sich erfolglos, lässig und ungefährlich dreinzusehen. Der Prinz musterte den dunklen Himmel, und sein Stirnrunzeln vertiefte sich zu Sorgenfalten. Die Nacht war hereingebrochen. Schon wurde die Luft kühler, und ihm schien es, als sei der Wall aus wirbelnden Schneeflocken ein Stück näher an den Schwarzen Turm herangerückt. Er hämmerte mit den Fäusten gegen die Fensterläden, aber der Zauberer reagierte nicht. Rupert stieß einen Fluch aus. Er dachte nicht daran, seine Männer im Freien übernachten zu lassen, wenn es hier ein Dach über dem Kopf gab. Nachdenklich betrachtete er die verrammelten Fenster. Er grinste plötzlich und schob sein Schwert in den Spalt zwischen die beiden Läden, die nicht allzu robust aussahen. Anfangs hatte er wenig Spielraum, aber als er den Druck verstärkte, glitt die Klinge bis ans Heft ins Innere. Er wartete einen Moment und horchte, aber der Zauberer rührte sich nicht. Wahrscheinlich beleidigt abgedampf t, dachte Rupert optimistisch. Er war schon immer leicht eingeschnappt. Rupert zögerte, als ihm der verwandelte Bote einfiel, der nun den Burggraben bewachte, und schüttelte dann heftig den Kopf. Seine Leute brauchten ein Nachtquartier.
Er packte den Schwertgriff fest mit beiden Händen und stemmte sein Gewicht langsam dagegen. Er vermied es, allzu großen Druck auf die Klinge auszuüben, weil er befürchtete, dass sie zerspringen könnte. Aber wie auch immer er den Hebel ansetzte – die Fensterläden gaben nicht nach. Rupert warf einen prüfenden Blick zum Abendhimmel. Der letzte helle Streifen verschwand im Westen. In einem Anfall von hilfloser Wut warf er sein ganzes Gewicht gegen den Schwertgriff. Der rechte Fensterladen flog auf, während Rupert nach vorn kippte und auf die Nase fiel. Reglos lag er im Gras, mit wild klopfendem Herz, aber die Zeit verstrich, und nichts rührte sich im Turm. Vorsichtig rappelte er sich auf, ohne das Schwert loszulassen, und wagte einen Blick durch das offene Fenster.
Der Raum dahinter war ein Chaos. Grob gezimmerte Tische und Werkbänke säumten die Wände, halb verschwunden unter Bergen von alchimistischen Gerätschaften. Glasretorten und Steinguttiegel bedeckten jede freie Fläche und standen sogar auf dem blanken Boden aus gestampfter Erde herum.
Eine Hälfte der schlampigen Hexenküche nahmen ganze Stapel von Tierkäfigen ein, jeder bis zum Bersten voll gepfropft mit kreischenden Vögeln und Affen, mit Ratten und Salamandern und sogar ein paar Ferkeln. Der Gestank war infernalisch. Eine große schmiedeeiserne Kohlepfanne, in der ein Häufchen rötlicher Glut qualmte, beherrschte die Unordnung. Und quer durch den Raum breitete sich ein Labyrinth von zusammengesteckten Glasröhren aus. Sie schlängelten sich wie Lianen oder Tentakel über die Tische und die Wände entlang bis in die entferntesten Nischen.
Der Große Zauberer selbst schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Rupert steckte sein Schwert ein und schwang sich mit einem Klimmzug auf den schmalen Fenstersims. Dann musterte er kopfschüttelnd die überfüllte Tischplatte auf halber Höhe, bis er eine Lücke in dem Durcheinander entdeckt hatte, und ließ sich vorsichtig in die Tiefe hinab. Glas knirschte unter seinem Stiefel, als er hastig zu Boden sprang. Von innen wirkte der Raum viel größer. Er hatte einen Durchmesser von gut zehn Metern und wurde von einer Glühkugel, die frei zwischen den hohen Deckenbalken umherschwebte, hell erleuchtet. Rupert runzelte die Stirn. Der Größe nach zu urteilen, nahm der Raum das gesamte Erdgeschoss des Turms ein, aber es schien keine Treppe zu den oberen Stockwerken zu geben. Er sah zwar eine Falltür in der Decke, aber keine Möglichkeit, zu ihr hinauf zu gelangen. Er zuckte die Achseln und schlenderte behutsam durch den Raum, fasziniert von all den Utensilien. Die Käfigtiere beäugten ihn neugierig, und ein alter Affe mit traurigen Augen streckte die Pfote durch die Gitter, als er vorbeiging, fast so, als flehe er stumm um Hilfe. Der Prinz lächelte den Affen schuldbewusst an und ging weiter. Eine farblose Flüssigkeit blubberte durch die Glasröhren und wurde von Zeit zu Zeit in Auffanggefäße entleert, die genau unter den Öffnungen angebracht waren.
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