Und letzten Monat war noch Sommer, dachte er verbittert.
Was zum Henker ist nur mit diesem Wetter los?
Er stolperte und wäre fast gestürzt, als der Wind erneut die Richtung wechselte. Das Einhorn rückte näher und versuchte ihn mit seiner Flanke gegen die schlimmsten Böen zu schützen. Rupert tätschelte ihm dankbar den Hals und blinzelte in das Schneetreiben. Er machte sich Sorgen um das Einhorn. Es schleppte sich immer langsamer dahin, halb erstarrt von der Kälte, die bis ins Mark drang; daran änderten auch die Decken nichts, in die er das Tier eingehüllt hatte. Eiskristalle glitzerten in seiner Mähne, und sein Atem stockte fast so oft wie seine Hufe. Rupert wusste, dass die Kälte und Erschöpfung ihren Tribut fordern würden; wenn er nicht bald einen geschützten Rastplatz fand, brach das Einhorn tot zusammen.
Das Unwetter war über Rupert und seine Begleiter hereingebrochen, nachdem sie den Dunkelwald hinter sich gelassen hatten. Innerhalb kürzester Zeit waren schwarze Wolken heraufgezogen, und die Abendkühle hatte sich in eisigen Frost verwandelt. Es begann in Strömen zu regnen und bald darauf heftig zu schneien. Der Wind frischte auf, aber Rupert stemmte sich verbissen gegen die Böen, die ihm heulend entgegenbliesen. Er war nicht bis hierher vorgestoßen, um sich nun dem Sturm zu beugen.
Er stampfte bei jedem Schritt kräftig auf den Boden, damit seine Zehen nicht völlig erstarrten. Der Schnee fiel in dicken Flocken, und die Kälte nahm stetig zu. Hin und wieder erhaschte Rupert einen Blick auf die blutrote Sonne, die tief am Himmel stand, und zwang sich, schneller zu gehen. Sobald sie unter den Horizont gesunken war, würden die Dämonen das Land durchstreifen. Der Prinz warf einen Blick über die Schulter. Die Männer folgten ihm durch den Schneematsch, dicht zusammengedrängt, um sich gegenseitig ein wenig zu wärmen. Nur der Champion ging allein, wie immer. Obwohl sein Brustharnisch von einer silbrigen Reifschicht bedeckt war, schien ihm die Kälte wenig auszumachen. Sein Rücken war gerade und sein Kopf hoch erhoben, als er mit weit ausgreifenden Schritten durch die sich immer höher auftürmenden Schneewehen stapfte. Rupert runzelte die Stirn. Die Haltung des Champions hätte ihm Mut machen sollen, aber irgendwie fand er seine eiserne Willenskraft unmenschlich.
Einen Moment lang flaute der Wind ab, die Schneewolken teilten sich, und Rupert erhaschte einen kurzen Blick auf den Dunkelwald, der wie ein unheimlicher Schatten hinter ihnen aufragte. Ruperts Miene verdüsterte sich, und er schaute wieder nach vorn.
Und dann war der Schneesturm vorbei. Rupert torkelte noch ein paar Schritte weiter, ehe er unsicher stehen blieb.
Langsam hob er den Kopf und sah sich um, während die plötzliche Stille ihm in den Ohren dröhnte. Das Gras unter seinen Füßen war saftig grün, unberührt von Graupelkörnern oder Schnee. Der Himmel zeigte das tiefe Blau eines Sommerabends. Kein Lüftchen wehte. Er stand am Rand einer großen Lichtung, die ringsum von einem Wall aus dichten Schneeflocken umgeben war. Seine Männer kamen einer nach dem anderen aus dem Schneetreiben in den Sommer gestolpert und ließen die Kälte hinter sich. Rupert sank erschöpft in das weiche Gras und streckte die Beine aus. Finger und Zehen prickelten schmerzhaft.
»Eine Zufluchtsstätte«, murmelte er. »Einhorn, wir haben eine Zufluchtsstätte gefunden.«
»Da bin ich nicht so sicher«, meinte das Einhorn. »Guck mal, was da drüben steht!«
Rupert folgte den Blicken des Einhorns. In der Mitte der Lichtung erhob sich ein Turm auf einem kleinen Hügel. Das etwa zwölf Meter hohe, aus dunkelgrauen Steinen errichtete Bauwerk war uralt und verwittert. Efeu bedeckte das Mauerwerk und bildete ein dichtes Gespinst vor den geschlossenen Fensterläden.
»Der Schwarze Turm«, sagte der Champion leise. »Ich hatte ihn mir viel größer vorgestellt.«
Rupert fuhr zusammen, sprang auf und funkelte den Champion wütend an. »Müssen Sie sich unbedingt anschleichen und mich halb zu Tode erschrecken? Meine Nerven liegen im Moment ziemlich blank.«
»Tut mir Leid, Sire«, entgegnete der Champion gelassen.
Irgendwann bist du dran, dachte Rupert schüttelte dann aber resigniert den Kopf. »Also schön, Sir Champion, sammeln Sie die Männer und lassen Sie durchzählen! Ich hoffe, alle haben das Unwetter heil überstanden. Inzwischen werde ich dem Großen Zauberer melden, dass er Besuch hat.«
Der Champion verneigte sich knapp und schlenderte zu der stark geschrumpften Garde hinüber. Die Männer hatten ihre Schwerter gezogen und beäugten misstrauisch den Schwarzen Turm. Rupert lächelte mit schmalen Lippen; er kannte ihre Gefühle ganz genau. Entschlossen schob er die Kapuze zurück und klopfte sich den Schnee aus dem Mantel. Nachdem er umständlich das Schwert zurechtgerückt hatte, seufzte er.
Er wusste, dass er Angst vor der Begegnung mit dem Großen Zauberer hatte. Und er wusste auch, dass sich der Moment nicht mehr lange hinausschieben ließ. Der Abend war angenehm warm, aber die Dämmerung brach rasch herein. Ganz offensichtlich hielt ein Zauber den Schneesturm fern – aber war er stark genug, um auch die Dämonen fern zu halten, wenn es dunkel wurde? Seine Leute benötigten eine sichere Unterkunft für die Nacht, und es gab weit und breit nur ein Bauwerk aus Stein. Er seufzte noch einmal, schlug den Umhang nach hinten, damit seine Schwerthand frei war, und stapfte langsam den kleinen Hügel zum Schwarzen Turm hinauf.
»Sei vorsichtig!«, rief ihm das Einhorn verzagt nach, ehe es den Kopf senkte und das üppige Gras rupfte.
Der Prinz schritt zweimal um den Turm herum und zählte nicht weniger als siebzehn fest verrammelte Fenster, entdeckte jedoch keine einzige Tür. Die Fenster selbst waren etwa einen halben bis einen Meter breit und in unterschiedlichsten Höhen angebracht; die niedrigsten befanden sich gut anderthalb Meter über dem Boden. Rupert blieb vor einem der Fenster stehen und runzelte nachdenklich die Stirn. Der Große Zauberer war schon immer etwas… exzentrisch gewesen.
Ganz zu schweigen von seiner Trunksucht und seinem Jähzorn. Während all der Jahre, die er in der Burg gelebt hatte, waren seine Exzesse fast so legendär gewesen wie seine Zauberkunst. Sein Hauptaugenmerk hatte stets dem Wein und den Weibern gegolten, wenn auch nicht immer in dieser Reihenfolge, und seine Art, ohne Rücksicht auf Verluste die Wahrheit zu sagen, hatte seine Beliebtheit bei Hofe nicht eben gesteigert. Als König Johann den Großen Zauberer schließlich aus seinem Reich verbannte, ging ein Aufatmen durch die Reihen des Adels, und im Umkreis von mehreren Meilen holten die Untertanen ihre Töchter und ihre Weinfässer aus sicheren Verstecken. Rupert zupfte sich nachdenklich am Kinn. So lange er zurückdenken konnte, war nie offen darüber gesprochen worden, weshalb der König den Großen Zauberer ins Exil geschickt hatte. Er hatte seit Eduards Zeiten am Hof gelebt und die Erziehung von König Johann übernommen. Wenn man einmal von Thomas Grey absah, war er stets der bevorzugte Ratgeber des Königs gewesen. Und dann starb Königin Eleanor.
Noch in ihrer Todesstunde hatte der Große Zauberer seine spärliche Habe zu einem Bündel geschnürt und war in den Wald geritten. Als König Johann davon erfuhr, berief er den Hofstaat ein und verlas das Verbannungsurteil. Tränen des Zorns und der Verzweiflung liefen ihm über die Wangen, als er formell verkündete, dass dem Großen Zauberer innerhalb der Grenzen seines Reiches Speis und Trank ebenso zu verweigern seien wie Unterkunft und Freundschaft. Bald danach brachten Reisende die Kunde, dass der Große Zauberer sein Domizil in einem alten Grenzturm jenseits des Waldes aufgeschlagen habe. Rupert erinnerte sich noch genau an den Gesichtsausdruck des Königs, als der Champion diese Neuigkeit schließlich bestätigt hatte. Damals war er zu jung gewesen, um die Gefühle zu begreifen, die er so deutlich gesehen hatte, aber heute wusste er, dass sich in den Zügen seines Vaters hilfloser Zorn gespiegelt hatte. Der Große Zauberer hatte sich der Verbannung widersetzt – und der König konnte nichts dagegen unternehmen. Obwohl er es versuchte, schon um seines Stolzes willen.
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