Rupert sah den Champion mit fragend hochgezogenen Brauen an. »Heißt das, dass Sie den Dunkelwald noch nie zuvor gesehen haben?«
»Tut mir Leid, Sire – nein! Die Pflichten eines Champions erfordern meine Anwesenheit auf der Burg, und der Dunkelwald war seit Jahrhunderten keine echte Bedrohung für unser Reich. Dafür sorgte der Schlingpflanzenwald. Ich habe natürlich die Berichte gelesen, aber…«
»Ja«, sagte Rupert, »ich weiß.«
Der Champion schien ihn mit völlig neuen Augen zu betrachten. »Und Sie haben dieser Finsternis zweimal getrotzt!
Kein Wunder, dass Sie verändert zurückkehrten.« Er wandte sich ab, ehe der Prinz etwas entgegnen konnte, und zog aus einer seiner Satteltaschen eine in Leder geritzte Karte. Rupert wartete ungeduldig, bis er sie entrollt hatte, und beugte sich dann vor, um auf die Stelle zu deuten, an der sie sich gerade befanden.
»Sie sehen selbst, Sir Champion, uns bleibt keine andere Wahl, als den Dunkelwald zu durchqueren. Wenn wir uns nach Osten wenden, versperren uns die Schattenberge den Weg. Im Westen erwarten uns die Großen Wasserfälle. Au
ßerdem würde jede dieser beiden Routen die Reise um Wochen verlängern. Wir können es uns nicht leisten, so viel Zeit zu verschwenden. Aber wenn die Berichte unserer Kundschafter stimmen, ist der Dunkelwald hier eher spärlich. Mit etwas Glück müssten wir es schaffen, in zwei bis drei Stunden auf die andere Seite zu gelangen.«
»Und wenn wir Pech haben?«
»Dann kommen wir nie drüben an«, entgegnete Rupert ruhig.
Der Champion lachte und warf einen prüfenden Blick auf den schwarzen Wall, der vor ihnen aufragte. »Ist Ihnen je der Gedanke gekommen, Sire, dass der Dunkelwald an dieser Stelle absichtlich ausgedünnt sein könnte? Als Verlockung für Reisende…«
»Natürlich«, entgegnete Rupert. »Ich bin fast sicher, dass es sich um eine Falle handelt. Aber gerade deshalb tut Eile Not. Wir müssen uns durchschlagen, ehe die Dämonen überhaupt bemerken, dass wir uns in ihrem Gebiet aufhalten.«
Der Champion zuckte ergeben die Achseln und rollte die Karte wieder zusammen. »Eigentlich schade. Ich hatte gehofft, den einen oder anderen Dämon vor die Klinge zu bekommen.«
Rupert strich mit den Fingerspitzen über die Narbenwülste, die seine rechte Gesichtshälfte verunzierten. »Ein Freizeitvergnügen, das oft überbewertet wird. Wenn uns die Dämonen aufspüren, Sir Champion, dann sind wir so gut wie tot. Alle.«
»Vermutlich kamen sie Ihnen besonders blutrünstig vor, weil Sie allein gegen eine ganze Horde kämpfen mussten, Sire. Aber…«
»Sie hatten keine Ahnung vom Dunkelwald, bis Sie ihn mit eigenen Augen sahen«, unterbrach ihn Rupert schroff.
»Und Sie wissen nichts von den Dämonen, solange Sie nicht miterlebt haben, wie sie aus der Finsternis hervorbrechen.
Aber genug der Worte! Sagen Sie den Leuten, dass wir aufbrechen! Da ich nicht sicher bin, wie die Pferde auf die lange Nacht reagieren werden, sollen erst einmal alle Mann absitzen und die Tiere am kurzen Zügel führen. Lassen Sie sämtliche Laternen und Öllampen entfachen und an den Sattelgurten festschnallen! Von dem Moment an, da wir den Dunkelwald betreten, hält jeder Kämpfer Schwert und Schild in Händen, aber unser einziger echter Schutz gegen die Finsternis wird der Lichtschein sein, den wir verbreiten.«
»Glauben Sie nicht, dass diese Vorsichtsmaßnahmen etwas übertrieben sind, Sire?«
»Nein.«
»Gut, wie Sie meinen, Sire. Welchen Weg nehmen wir?«
»Allen Legenden zufolge gab es stets nur einen Pfad durch den Dunkelwald – und der verläuft Meilen entfernt. Nein, Sir Champion, wir schlagen eine Bresche in das Gestrüpp am Waldrand und bahnen uns selbst einen Weg durch die Finsternis. Das dürfte nicht allzu schwierig sein – diese Bäume sind durch und durch morsch.«
Der Champion musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Wenn sich in der Gegend Dämonen herumtreiben, hören sie uns ohne Frage, Sire.«
Rupert zuckte mit den Schultern. »Ich habe versucht, mich an ihnen vorbeizuschleichen, Sir Champion. Das gelingt nicht. Unsere einzige Hoffnung ist schnelles Handeln.«
Der Champion nickte mit unbewegter Miene, verstaute die Karte wieder in der Satteltasche und ging zu den Soldaten, um ihnen die notwendigen Befehle zu erteilen. Rupert richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Grenze des Dunkelwaldes, musste den Blick jedoch rasch abwenden. Die Schwärze weckte zu viele Erinnerungen. Um sich abzulenken, sah er nach seinen Leuten, die bereits absaßen und nach Feuerstein und Stahl suchten, um ihre Laternen anzuzünden.
Die Gardisten wirkten ziemlich gelassen, aber ihre Pferde verrieten Unruhe. Sie scharrten mit den Hufen, warfen die Köpfe zurück und bliesen schnaubend weiße Atemwolken in die kalte Luft. Obwohl die Finsternis sie zu faszinieren schien, rollten sie wild mit den Augen, sobald die Männer versuchten, sie näher an die Waldgrenze heranzuführen.
Rupert beobachtete die Tiere mit gerunzelter Stirn und schlug dann vor, ihnen Decken oder Umhänge um die Köpfe zu wickeln, damit sie beim Betreten des Dunkelwaldes nicht in Panik gerieten.
Die Soldaten nickten ehrerbietig und kamen seinem Befehl rasch nach. Der Anblick des Dunkelwaldes aus nächster Nähe hatte sie höllisch beeindruckt, und das Wissen, dass Rupert ihn bereits zweimal passiert und dieses Abenteuer überlebt hatte, wog nun viel stärker als zuvor. Rupert lächelte bitter.
Die Männer mochten in ihm so etwas wie einen Fachmann sehen, aber er wusste, dass er diesen Anspruch nicht erfüllen konnte. Er schwang sich aus dem Sattel und mischte sich unter die Truppe, unterhielt sich mit den Leuten und versuchte ihre Fragen über den Dunkelwald zu beantworten. Seine Auskünfte über die Gefahren, die vor ihnen lagen, waren nicht unbedingt beruhigend, doch die Gardisten nahmen jedes seiner Worte auf, lachten höflich über seine Scherze und machten deutlich – auch wenn sie es nicht direkt aussprachen–, dass sie seine Aufrichtigkeit zu schätzen wussten. Einige klopften ihm auf die Schultern und erklärten, dass sie schon schlechtere Anführer erlebt hätten. Rupert hatte Tränen in den Augen, als er zu seinem Einhorn zurückkehrte. Er war so stolz auf seine Leute und zugleich so beschämt, weil er fürchtete, ihren Erwartungen nicht gerecht zu werden.
Schließlich war alles zum Aufbruch bereit. Rupert lehnte sich an die Schulter des Einhorns, während er einen letzten Blick auf seine Truppe warf. Lampen und Laternen hingen an jedem Sattel und verbreiteten einen blassen Schein, der im Tageslicht kaum auszumachen war. Rauch von einem halben Dutzend Fackeln erfüllte die Luft. Schwerter blitzten in den Fäusten der Kämpfer. Die Pferde stampften unruhig, beunruhigt vom Gestank des Dunkelwaldes, aber die Hüllen um die Augen bewirkten, dass sie sich ohne größeren Widerstand führen ließen. Rupert nagte an der Unterlippe und überlegte noch einmal, ob er an alles gedacht hatte. Der Proviant war diesmal kein Problem, aber er hatte zur Sicherheit noch einmal alle Feldflaschen an einem nahen Bach mit frischem Wasser füllen lassen. Rupert seufzte. Was getan werden musste, war getan. Alles Weitere wäre eine Ausrede gewesen, um die Begegnung mit der Finsternis noch etwas hinauszuschieben – die Begegnung, die ihn für immer gezeichnet hatte.
Er schüttelte ärgerlich den Kopf und warf einen Blick auf den Champion, der geduldig am Rand des Dunkelwaldes wartete, die mächtige Doppel-Streitaxt in der Faust. Die beiden Klingen blitzten kurz auf, als der Champion die Waffe hochnahm. Er schaute Rupert fragend an, und der Prinz nickte ihm kurz zu. Mit einem wilden Grinsen wandte sich der große Kämpfer der Finsternis zu, zögerte kurz, schwang die Axt hoch über den Kopf und ließ sie auf den erstbesten Baum des Dunkelwaldes niedersausen. Die Klinge sank tief in das morsche Holz, und der Gestank nach Fäulnis und Verwesung verstärkte sich sofort. Der Champion riss die Axt heraus und kappte den Baum mit dem zweiten Hieb. Der Stamm war hohl, von innen zerfressen. Mühelos schwang er die Riesenaxt. Er drang in den Wald ein, und dann verschluckte ihn die Schwärze. Die Beilhiebe waren immer noch zu hören, aber nur gedämpft, wie aus weiter Ferne. Rupert winkte einem halben Dutzend seiner Leute, und sie machten sich daran, den neuen Pfad in das Dunkel zu verbreitern.
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