»Menschen!«, knurrte der Drache liebevoll. Er ließ den großen Kopf auf den Schweif sinken und hielt geduldig Wache, bis die Nacht vorbei war.
KAPITEL FÜNF
Der Schwarze Turm
TIEF IM DUNKELWALD, im verborgenen Herzen der endlosen Nacht, lag eine Lichtung. Hoch droben neigten sich die Baumkronen nach innen und verwoben ihre knorrigen, verwachsenen Äste zu einem Geflecht, das eine dichte Laube bildete und jegliches Tageslicht aussperrte. Die Stämme waren gesprenkelt mit phosphoreszierenden Flechten, die einen unheimlichen blauen Schimmer verbreiteten. Pilze und schmierige Moospolster bedeckten den Boden der Lichtung, in deren Mitte ein einzelner halb verfaulter Baumstumpf in Form eines Herrscherthrons aufragte. Und in diesem Dunkel, auf diesem modrigen Thron, saß der Dämonenfürst.
Im Vergleich zu seinen Artgenossen wirkte der Dämonenfürst fast wie ein Mensch. Er hatte das Aussehen eines Menschen, wenngleich seine Züge verschwommen waren und seine dünnen Finger in Klauen endeten, aber die glühenden roten Augen verrieten keine Spur von menschlichen Gedanken oder Gefühlen. Er sah wie ein Mensch aus, weil es ihm Spaß machte, Menschengestalt anzunehmen. Früher einmal hatte er eine andere äußere Form angenommen, und vielleicht tat er das in Zukunft wieder, aber jetzt lebte er nun einmal in der Welt der Menschen – wenn man bei einem Wesen, das nie geboren worden war, das Wort leben verwenden konnte.
Selbst im Sitzen war er unnatürlich groß. Er wirkte hager bis an die Grenze der Auszehrung, seine fahle Haut hatte einen flackernden Perlmutt-Glanz, und seine Kleidung bestand aus tiefschwarzen Lumpen und Fetzen. Er trug einen verknautschten, breitkrempigen Hut, den er tief in die Stirn gezogen hatte. Während er einer Aaskrähe gleich auf dem Thron hockte, kaute er lässig auf etwas Lebendigem herum, das noch schwach zappelte und fiepte. Der Dämonenfürst brauchte keine Nahrung, aber seine Natur zwang ihn dazu, Angst zu verbreiten, und er liebte es, andere Geschöpfe zu töten.
Um den morschen Thron scharten sich die Dämonen des Dunkelwalds, bucklige Schatten, so weit die Lichtung reichte.
Am Boden kauernd oder hockend, auf den Bäuchen kriechend, huldigten sie ihrem Herrscher. Sie beobachteten, wenn sie Augen hatten, lauschten, wenn sie Ohren hatten, oder…
warteten ganz einfach. Sie waren Geschöpfe der Finsternis, und die Finsternis war geduldig.
Eine strahlende Silberkugel erschien plötzlich vor dem Thron, schwebte schimmernd und pulsierend in der faulig stinkenden Luft. Der Dämonenfürst grinste schauerlich, wischte sich das frische Blut vom Kinn und ließ seine Beute achtlos fallen. Zwei Dämonen zankten sich um die Reste. Der Herr der Finsternis winkte lässig, und die Kugel schwebte näher heran.
»Meister!«, erklang eine ruhige Stimme aus der Kugel, und der Dämonenfürst fletschte die blutverschmierten Zähne.
»Ja, mein teurer Verräter – ich warte auf deinen Bericht!«
Er sprach leise und zischelnd, in einem Tonfall, der den Ohren wehtat.
»Prinz Rupert und sein Gefolge nähern sich den Grenzen deines Reiches, Meister. Sie wollen durch die lange Nacht reiten, um zum Schwarzen Turm zu gelangen. Du musst sie aufhalten, ehe sie den Großen Zauberer erreichen…«
»Er ist bedeutungslos«, entgegnete der Dämonenfürst belustigt. »Kein Mensch vermag etwas gegen die Dunkelheit auszurichten – oder bist du etwa anderer Ansicht?«
Er ballte die Hand zur Faust, und aus der Kugel drangen laute Schmerzensschreie. Die am Boden kauernden Dämonen rutschten unbehaglich umher, beunruhigt durch die Gewaltandrohung ihres Herrschers. Der Herr der Finsternis öffnete die Hand. Die Schreie verebbten zu einem gequälten Atmen.
»Verzeih mir, Meister, ich…«
»Du vergisst die Rangfolge, mein teurer Verräter. Einst suchtest du Macht über mich zu erlangen, aber nun gehörst du mir mit Leib und Seele, und ich kann über dich gebieten, wie es mir beliebt. Ein falsches Wort, und ich verwandle dich in den Geringsten meiner Dämonen! Aber wenn du mir bedingungslos gehorchst, sollen alle Königreiche dieser Welt dir gehören…«
»Ja, Meister. Ich bin dein treuester Diener.«
»Du bist mein Sklave.« Der Dämonenfürst stützte das Kinn in die knochige Hand und starrte nachdenklich die Schwebekugel an. Der breitkrempige Hut tauchte sein Gesicht in Schatten, in ein tiefes Dunkel, aus dem nur seine roten Augen glommen. »Nun, Verräter, hast du das Curtana?«
»Ja, Meister. Es befindet sich hier auf der Burg, in einem sicheren Versteck.«
Der Herr der Finsternis lachte leise, und die Dämonen zuckten zusammen. »Du hast deine Sache gut gemacht, Verräter. Ohne dieses Schwert können sie nichts gegen mich ausrichten. Ich habe die Zaubergemme. Ich habe das Horn des Einhorns. Ich habe meine prächtigen Dämonen. Und endlich, nach Jahrhunderten des Wartens, zeigt sich am Himmel wieder der Blaue Mond. Meine Zeit ist nahe.«
»Aber der Große Zauberer, Meister!«
Der Dämonenfürst ballte die Faust, und wieder erschollen Schreie aus der Kugel. »Trotz seines Wissens und trotz seiner Macht ist der Zauberer nur ein Mensch. Ich bin solchen Menschen schon früher entgegengetreten und habe sie mit Vergnügen zerbrochen.«
Er öffnete die Hand, und die Schreie verstummten. Eine Weile hörte man auf der Lichtung nichts außer dem rauen, keuchenden Atmen. Der Dämonenfürst lächelte.
»Zurück an die Arbeit, Sklave! Sei wie zuvor meine Augen und Ohren unter den Höflingen des Königs! Sei meine Finsternis im Herzen ihres Lichts!«
Die Kugel flackerte und verschwand, und wieder lag Dunkelheit über der Lichtung, gemildert nur vom bläulichen Schimmer der phosphoreszierenden Flechten. Der Herr der Finsternis ließ den Blick über die geduckt wartenden Dämonen schweifen und lachte leise.
»Bald«, versprach er ihnen. »Bald…«
Prinz Rupert zügelte das Einhorn und warf einen düsteren Blick auf den Dunkelwald, der vor ihm aufragte. Die Schwärze fiel wie ein Vorhang vom Himmel, der den Beginn der langen Nacht markierte. Rupert fröstelte und zog den Mantel enger um die Schultern. Tief hängende Wolken verdeckten die Mittagssonne, und der eisige Wind peitschte Graupelschauer vor sich her. In der Luft lag Fäulnisgestank. Die Bäume ringsum wirkten dürr und kränklich, ausgezehrt und verkrüppelt von der näher rückenden Finsternis. In die rissige Rinde hatten sich Flechten und Schwämme eingenistet, und der alte Pfad verschwand fast völlig unter verdorrtem Laub.
Rupert spürte, wie die Männer hinter ihm unruhig wurden; es war das erste Mal, dass sie den Dunkelwald aus der Nähe sahen. Er runzelte die Stirn und winkte den Champion an seine Seite. Je eher er seine Schar in die lange Nacht führte, desto besser – sonst verloren sie noch den letzten Rest ihres Selbstvertrauens. Rupert starrte durch die Graupelschleier, unfähig, den Blick von den morschen Bäumen an der Grenze des Dunkelwaldes abzuwenden. Seine Hände zitterten, und der scharfe Geruch des eigenen Angstschweißes stieg ihm in die Nase. Er hatte sich die Reise einfacher vorgestellt. Dabei hatte er die Finsternis bereits zweimal besiegt. Er wurde von einer Schutztruppe begleitet, die ihm den Rücken freihielt.
Und dennoch stockte ihm der Atem, und das Herz hämmerte ihm gegen das Brustbein. Seine Hände umklammerten die Zügel des Einhorns so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Rupert warf den Kopf nach hinten, um die Panik zu verscheuchen. Er würde erneut in den Dunkelwald eindringen, gleichgültig, was geschah, und diesmal wollte er bei seinem Ritt durch die Finsternis ein Zeichen setzen, das den Dämonen für immer im Gedächtnis blieb!
Der Champion lenkte sein gerüstetes Streitross neben das Einhorn und nickte Rupert kurz zu. »Das also ist der Dunkelwald«, sagte er bedächtig, und ein seltsames Leuchten stand in seinen kalten, dunklen Augen. »Sie haben nicht übertrieben, eher das Gegenteil. Er ist wie ein Albtraum, der in den hellen Tag eindringt – ein Wegweiser zur Hölle.«
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