»Wo bleiben Sie denn so lange?«, rief der Seneschall ungeduldig. »Die Tür zum Schatzhaus ist nicht verschlossen.«
Julia blickte nach unten und sah gerade noch, wie der Seneschall energisch an der Klinke rüttelte. Die Tür schwang nach außen und hätte ihn um ein Haar von den Beinen gefegt.
Nachdem er das Gleichgewicht wieder gefunden hatte, starrte er misstrauisch in die dunkle Öffnung und hechtete dann entschlossen hinein.
Der Mann besitzt entweder Nerven wie Drahtseile, dachte Julia, oder einen absolut unterentwickelten Selbsterhaltungstrieb.
Sie musterte düster die verwitterten, grob behauenen Stufen, die zwischen ihr und dem Eingang zum Schatzhaus lagen. Nur wenige Lücken waren so breit, dass sie einen Sprung erforderten, doch die Stufen davor und danach wirkten nicht gerade Vertrauen erweckend. Julia blickte in die Tiefe und wünschte gleich darauf, sie hätte es nicht getan.
Der Abgrund wirkte mit jedem Mal gefährlicher. Sie unterdrückte einen Fluch, um Bodeen nicht zu beunruhigen. Wenn der Seneschall den Weg nicht bereits zurückgelegt hätte, wäre ihr der Abstieg über die halb zerfallene Treppe unmöglich erschienen. So aber… Julia raffte mit einem tiefen Seufzer ihren langen Rock und stopfte den Saum vorn und hinten in den Gürtel. Der Wind wehte ihr eiskalt um die nackten Beine, aber sie musste einfach sehen, wohin sie trat. Sie betrachtete zweifelnd die nächste Stufe, ehe sie vorsichtig einen Fuß darauf setzte. Die Steinplatte knirschte warnend unter ihrem Gewicht. Julia wartete einen Moment, bis sie zu schwanken aufhörte, und setzte dann ihren Weg fort. Langsam drang sie in die Tiefe vor, eine Stufe nach der anderen, und untersuchte sorgfältig jeden Stein mit den Zehenspitzen, ehe sie ihm ihr volles Gewicht anvertraute. Immer wieder blieb sie reglos stehen, während das alte Mauerwerk unter ihr ächzte und der Mörtel in kleinen Staubwolken nach unten rieselte. Julia merkte, dass Bodeen dicht hinter ihr blieb, um sie im Falle eines Sturzes festzuhalten, aber nach einer Weile musste sie ihm befehlen, einen größeren Abstand einzuhalten. Die Steinstufen waren zu bröckelig, um zwei Menschen gleichzeitig zu tragen.
Der erste Sprung war der schwerste. Ein ganzer Block von sechs Stufen war weggebrochen und hatte ein schartiges Loch von etwa fünf Metern hinterlassen. Die Stufen am Anfang und Ende wirkten keineswegs stabil, und Julia beschloss nach einigem Zögern, dass sie mit Anlauf springen musste. Sie kletterte zwei Stufen zurück, atmete tief durch, um sich zu beruhigen, und rannte los, um sich mit Schwung abzustoßen.
Einen Moment lang war unter ihr nichts, doch dann landete sie hart auf der unteren Stufe. Sie fiel nach vorn und presste sich ängstlich gegen das raue Mauerwerk, doch die große Steinplatte unter ihren Füßen bewegte sich kaum. Mit einem Seufzer der Erleichterung richtete sie sich auf und begab sich rasch auf die nächste Stufe, damit Bodeen Platz genug für seine Landung hatte. Er überwand das Loch mit einem Satz und setzte so geschmeidig auf, dass der Stein nicht einmal zitterte. Die beiden grinsten sich kurz zu und setzten dann ihren Weg fort, eine Stufe um die andere.
Der Wind nahm stetig zu, eisige Böen, die durch Mark und Bein zu dringen schienen. Julia zitterte vor Kälte und hastete die letzten Stufen hinab, ohne sie zuvor gründlich zu untersuchen. Dann stand sie vor der letzten Lücke. Sie klaffte etwa einen Meter breit, und dahinter waren nur noch zwei Stufen bis zum Schatzhaus-Eingang zu überwinden. Julia steckte noch einmal ihren Rocksaum fest, schätzte die Entfernung für den großen Schritt ab und übersprang den Spalt mit Leichtigkeit. Die Platte gab ein wenig nach, als sie landete – und brach dann unvermittelt mit einem lauten Geprassel von Steinen und Mörtel aus der Mauer. Julia warf sich nach vorn und erwischte die Kante der nächsten Stufe im gleichen Moment, als die erste Platte in die Tiefe polterte. Wie erstarrt verfolgte sie den langen Weg des Steinbrockens, bis er im schmutzig grünen Wasser des Burggrabens versank, und verdrängte mühsam den Gedanken, dass ihr um ein Haar der gleiche Sturz gedroht hätte. Sie umklammerte die raue Steinkante und wartete, bis sich ihr Herzschlag ein wenig beruhigt hatte.
»Halten Sie sich gut fest, Julia!«, sagte Bodeen ruhig. »Ich springe jetzt nach drüben und ziehe Sie hoch!«
»Nein! Bleiben Sie, wo Sie sind, Bodeen!« Julia spürte, wie die Stufe langsam nachgab. Sie trüge auf keinen Fall auch noch Bodeens Gewicht. Langsam zog sie sich über die Kante hoch und hielt alle paar Sekunden inne, damit der Stein nicht zu stark ins Schwanken geriet. Ihre Armmuskeln schmerzten unerträglich, aber sie wagte es nicht, ihren Klimmzug zu beschleunigen. Endlich konnte sie ein Knie über den Rand schwingen und hievte mit einem Ruck den Körper nach. Eine Weile lag sie einfach da, ohne sich zu rühren. Sie spürte, wie der Stein unter ihr ächzte und knirschte und dann zur Ruhe kam. Ihr Herz hämmerte gegen die Rippen, und trotz des eisigen Windes lief ihr der Schweiß in Strömen über Gesicht und Rücken. Wenn ich diese Tür schaff e, dachte sie erschöpft, erschlage ich den Seneschall mit dem nächstbesten stumpf en Gegenstand! Sie rollte sich zur letzten Stufe hinunter, richtete sich langsam auf und winkte Bodeen zu, der sie angespannt von der anderen Seite der Lücke aus beobachtete.
»Kommen Sie, Bodeen! Aber versuchen Sie auf diese Stufe hier zu springen. Ich glaube nicht, dass die andere Ihr Gewicht aushält.«
Bodeen nickte ruhig und war mit einem großen, federnden Schritt neben ihr. Die Stufe zitterte nur leicht, als er landete, und Julia wandte ihre Aufmerksamkeit der offenen Schatzhaus-Tür zu. Nach allem, was ich durchgemacht habe, dachte sie grimmig, ist dieses Schatzhaus hof f entlich die Mühe wert!
Sie warf einen letzten Blick auf den Wald, der sich tief unter ihr ausbreitete, und trat über die Schwelle.
Wieder wechselte die Schwerkraft, als sie mitten in der Luft war, und sie schaffte es gerade noch, einen Sturz zu verhindern. Sie hielt nach dem Seneschall Ausschau und musste unvermittelt zur Seite springen, als Bodeen mit einem Salto durch die Tür geschossen kam. Er hatte Mühe, auf beiden Füßen zu landen, und als Julia die Hand ausstreckte, um ihn zu stützen, sah sie zu ihrer großen Verblüffung, dass der Mann tatsächlich errötete. Sie musste lachen, als ihr die Erklärung dämmerte, und brachte rasch den geschürzten Rock wieder in Ordnung. Bodeen verwandte große Sorgfalt darauf, die Schatzhaus-Tür zu schließen, und drehte sich erst wieder um, als er sicher sein konnte, dass ihre nackte Haut wieder sittsam bedeckt war.
»Auf der Treppe hat Sie das nicht gestört«, stellte Julia belustigt fest.
»Das war eine Notlage«, erklärte er mit großer Bestimmtheit. »Hier dagegen schickt sich so etwas nicht. Ich meine –
was würde der Seneschall sagen?«
»Sicher etwas Bissiges«, meinte Julia und ließ die Blicke neugierig umherschweifen. Nachdem sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte sie, dass sie in einem großen Saal standen. Spärliches Licht sickerte durch die Ritzen der verrammelten Fenster. Spinnweben hüllten die hohe Holzdecke ein und bildeten in allen Winkeln und Nischen grausilberne Nester. Staub war dagegen kaum zu sehen.
Mit Büchern voll gestopfte Regale säumten die Wände, und Dutzende von Stühlen standen vor Dutzenden von Schreibtischen, alle durch ein Gewirr von Spinnfäden miteinander verbunden.
»Welchen Zweck mag dieser Raum erfüllt haben?«, fragte Julia.
Bodeen zuckte die Achseln. »Wenn wir uns tatsächlich im früheren Schatzhaus befinden, dann war dies vermutlich das Zählkontor.«
»Bestechende Logik«, bemerkte der Seneschall, der plötzlich durch eine Tür zu ihrer Linken kam. »Wer weiß, wie viele Tonnen Gold, Silber und Kupfer hier im Lauf der Generationen registriert wurden? Alles, was dieses Reich besitzt, hat irgendwann diesen Raum passiert.«
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