»Irgendetwas stimmt nicht«, erklärte er ruhig.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Julia. Sie verschwieg ihr eigenes Unbehagen, aus Angst, sich lächerlich zu machen.
»Ich kann es schwer in Worte fassen.« Der Seneschall ließ seine Blicke umherschweifen. Ein Schauder durchlief ihn.
»Welchen Zauber auch immer der Astrologe damals erprobte, er muss verdammt stark gewesen sein. Stärker, als der Mann eingestehen wollte. Und er ist bis heute nicht verflogen. Er sitzt in den Holzpaneelen und Steinen, zittert in der Luft…«
»Heißt das, dass wir hier in Gefahr sind?«, fragte Bodeen und hob das Schwert wie zum Angriff.
»Ja. Nein. Ich weiß es nicht.« Der Seneschall runzelte die Stirn und sah Bodeen und Julia ratlos an, als erwarte er von ihnen die richtige Antwort. Dann drehte er sich brüsk um.
»Wir verschwenden unsere Zeit. Die Schatzkammern sind nicht weit. Kommen Sie!« Er schien einen kurzen Dialog mit seinem sechsten Sinn zu halten, ehe er in einen Seitenkorridor abbog und zuversichtlich losmarschierte, ohne sich zu vergewissern, ob die Prinzessin und der Gardist ihm in das Dunkel folgten.
Die Stille erdrückte Julia mehr als alles andere, und das nicht nur, weil sie sich an den Dunkelwald erinnert fühlte.
Die endlosen Korridore schienen jeden Laut zu schlucken, als wehrte sich der Südflügel gegen jede Ruhestörung. Bodeen ließ den Blick aufmerksam durch das Dunkel schweifen, musterte jede Tür und jeden Durchgang, fand jedoch keinen schlüssigen Hinweis, dass sie beobachtet oder verfolgt wurden. Und doch war es gerade diese Lautlosigkeit, die Julia davon überzeugte, dass sie nicht allein waren. Sämtliche Instinkte meldeten ihr, dass ganz in der Nähe eine tödliche Gefahr drohte, und tief in ihrem Innern wusste sie mit tödlicher Sicherheit, dass jenseits des Lichtkreises etwas Böses lauerte. Blinde Panik stieg in ihr auf, aber sie verdrängte sie gewaltsam. Ihrem Entsetzen konnte sie nachgeben, wenn sie Zeit dazu hatte.
Der Korridor verengte sich plötzlich, und die Wände kamen bedrohlich auf sie zu. Die Laterne des Seneschalls warf einen gelblichen Schein auf verblichene Tapeten und die Porträts längst verstorbener Männer und Frauen. Nach ein paar Schritten blieb der Burgverwalter vor einer verschlossenen, mit reichem Schnitzwerk geschmückten Tür stehen und runzelte die Stirn. Plötzlich spürte Julia die Nähe einer dunklen, gefährlichen und entsetzlich vertrauten Macht. Sie warf Bodeen einen Blick zu, doch der wandte den Kopf nach hinten und spähte den Korridor entlang, den sie eben hinter sich gelassen hatten. Er hielt sein Schwert kampfbereit in der Hand, schien aber nicht sonderlich beunruhigt. Julia starrte die verschlossene Tür an und konnte nicht verhindern, dass sie zu zittern begann. Die Ahnung, dass sich hinter dieser Tür etwas Schreckliches verbarg, überwältigte sie. Sie fuhr sich mit der Zunge über die ausgedörrten Lippen und hielt den Dolch mit der Spitze nach vorn.
»Alles in Ordnung?«, fragte Bodeen leise.
»Ja«, entgegnete Julia mit gepresster Stimme. »Wenn man davon absieht, dass ich in diesem Korridor ein ungutes Gefühl habe…«
Bodeen nickte ernst. »Das ist das Dunkel. Lassen Sie sich davon nicht beunruhigen!«
»Es ist mehr als das. Hören Sie nie auf Ihre Instinkte?«
»Doch. Ständig. Aber ich vertraue in erster Linie meinen Augen und Ohren, und bis jetzt lässt nichts den Schluss zu, dass sich in diesem verdammten Flügel außer uns und ein paar Spinnen noch jemand befindet.«
Julia schüttelte störrisch den Kopf. »Hier ist etwas, und das flößt mir Angst ein. Wir kommen diesem Ding immer näher.«
»Wenn ihr beide fertig seid«, meinte der Seneschall säuerlich, »kann ich euch mitteilen, dass wir unser Ziel fast erreicht haben. Hinter dieser Tür befindet sich der Südturm, und dahinter liegt der Eingang zum Schatzhaus.«
Julia sah ihn skeptisch an. »Sind Sie sicher?«
»Natürlich bin ich sicher!«
»Warum spannen Sie uns dann so lange auf die Folter?«
»Weil die Tür mir irgendwie Rätsel aufgibt!«, raunzte der Seneschall. »Ich weiß, dass sie zum Südturm führt, aber…
mich überfallen immer wieder Zweifel.«
»Wollen Sie damit sagen, dass wir uns verlaufen haben?«
Julias Herz begann wild zu klopfen.
»Unsinn! Ich bin nur nicht völlig sicher, wo wir sind.«
»Großartig«, murmelte Bodeen.
Der Seneschall bedachte die Tür mit einem bösen Blick und drückte dann vorsichtig die Klinke herunter. Julia zückte den Dolch. Nach einem raschen Blick auf Julia und Bodeen schob der Seneschall die Tür einen Spalt auf. Gleißendes Licht floss durch die Öffnung und vertrieb das Dunkel. Julia und der Seneschall wichen zurück, verwirrt durch die plötzliche Helligkeit, und Bodeen trat mit raschen Schritten zwischen sie und die Tür. Er wartete, bis sich seine Augen an das neue Licht gewöhnt hatten, und schob die Tür mit der Stiefelspitze auf. Sie schwang langsam nach innen, und Bodeen pfiff leise durch die Zähne, als helles Tageslicht in den Korridor flutete.
»Sehen Sie sich das an!«, sagte er langsam. »Sie werden es nicht glauben…«
Julia spähte misstrauisch umher, ehe sie neben die beiden Männer trat. Das übermächtige Gefühl einer drohenden Gefahr war einem schwachen Unbehagen gewichen, aber den Verdacht, dass sie beobachtet wurden, konnte sie immer noch nicht abschütteln und warf einen Blick durch die geöffnete Tür. Einen Moment lang blinzelte sie, geblendet von der plötzlichen Helligkeit, und dann kam ihr zu Bewusstsein, dass sich vor ihr der endlose Himmel ausbreitete. Wolken schwebten vorbei, weich und wattig, so nahe, dass sie fast die Hand danach ausstrecken konnte. Sie schaute nach oben und keuchte auf. Ihr Magen schien in die Tiefe zu sacken. Hoch über ihr, hundert Fuß oder mehr, befand sich der Erdboden.
Die Landschaft war auf den Kopf gestellt! Julia schloss die Augen und wartete, bis sich ihr Magen beruhigt hatte, ehe sie es erneut wagte, einen Blick nach draußen zu werfen. Sie hatte im Allgemeinen keine Angst vor großen Höhen, aber dieses umgekehrte Panorama, das der natürlichen Ordnung der Dinge so lässig trotzte, machte ihr gewaltig zu schaffen.
»Mal was ganz anderes«, sagte sie schließlich und zwang sich, nach oben zum Erdboden zu schauen.
»Ja, nicht wahr?«, entgegnete der Seneschall fröhlich, und Julia stellte verwirrt fest, dass es ihm nicht das Geringste auszumachen schien, seine Blicke nach oben und dann wieder nach unten schweifen zu lassen. Mehr noch, er lächelte! »Das ist die Aussicht vom Südturm, Prinzessin – oder zumindest von dem Punkt, an dem sich der Südturm früher befand.
Wenn Sie nach unten – äh, ich meine nach oben schauen, können Sie den Burggraben ganz deutlich erkennen. Faszinierend. Absolut faszinierend. Und es handelt sich keineswegs um eine Illusion. Offenbar hat in diesem Türrahmen so etwas wie eine Umkehr des Raumes stattgefunden. Ich spüre es ganz deutlich. Und ich nehme an, dass jeder, der über diese Schwelle tritt, nach oben fällt anstatt nach unten.«
»Bitte sehr – nach Ihnen«, sagte Julia. Der Seneschall lachte glucksend. Bodeen starrte mit gerunzelter Stirn zum Boden hinauf.
»Weshalb hat niemand bemerkt, dass der Turm die ganze Zeit über verschwunden war?«, fragte Julia bedächtig. »Das muss doch von außen irgendwie aufgefallen sein.«
»Eigentlich nicht«, erklärte der Seneschall, der immer noch eingehend die Landschaft betrachtete. »Das Äußere der Burg besteht hauptsächlich aus Trugbildern.«
»Zumindest wissen wir jetzt, was den anderen Suchtrupps zugestoßen ist«, erklärte Bodeen unvermittelt. Julia und der Seneschall traten vorsichtig einen Schritt zurück, ehe sie ihn fragend ansahen.
»Das ist doch glasklar«, fuhr der Gardist ruhig fort und blinzelte in das Sonnenlicht. »Die Leute wollten wie Sie, Sir Seneschall, durch den Südturm zum Schatzhaus vordringen.
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