Rupert stürmte heran und hieb eine Gasse durch die Horde der überraschten Angreifer, bis er neben Julia stand. Lange Zeit sah man nichts außer den beiden Schwertern, die auf die Feinde niedersausten. Blut spritzte nach allen Seiten, und dann wichen die Dämonen so unvermittelt zurück, dass Rupert und Julia plötzlich allein vor dem morschen Baumstamm standen. Langsam senkten sie die Waffen und sahen sich misstrauisch um. In der Finsternis wimmelte es von grotesken Schemen, aber alles deutete darauf hin, dass sich die Dämonen tiefer in den Dunkelwald zurückzogen. Die wenigen Überlebenden des Heeres spähten ungläubig über die Barrikade, dachten aber nicht daran, die Fliehenden zu verfolgen.
»So leicht geben die doch sonst nicht auf«, stieß Rupert hervor. Er stand da, erschöpft auf sein Schwert gestützt und immer noch nach Luft ringend. »Die haben sicher etwas vor…«
»Wahrscheinlich.« Julias Knie gaben nach, und sie konnte sich gerade noch hinsetzen. Sekunden später hatte sich Rupert zu ihr gesellt. Er warf einen skeptischen Blick auf Hundsgift.
»Ist das Ding gut – als Schwert, meine ich?«
»Ich habe schon schlechtere gesehen.«
Rupert starrte düster auf die Toten, die überall verstreut lagen und nach Fäule und Verwesung stanken. Dann wandte er sich Julia zu und meinte mit einem tiefen Seufzer: »Es muss doch eine bequemere Art geben, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen!«
Julia verzog nur die Mundwinkel; sie war zu schwach, um herzhaft loszulachen. Rupert betrachtete sie genauer und runzelte die Stirn.
»Du bist verletzt, Mädchen!«, sagte er mit rauer Stimme.
»Du auch«, entgegnete Julia. »Und doch bist du mir zu Hilfe gekommen und hast mir das Leben gerettet.«
»Du hättest das Gleiche für mich getan.«
»Wie schlimm ist deine Armwunde?«
»Schlimm genug. Und du – wie fühlst du dich?«
»Beschissen wäre geprahlt.«
Rupert legte ihr den gesunden Arm um die Schultern, und sie ließ den Kopf an seine Brust sinken. Schweigend saßen sie da und genossen es, dass geteilte Schmerzen halbe Schmerzen waren. Rupert wusste, dass er Julia eigentlich zurück zum Heer bringen musste, so lange die Dämonen sie in Ruhe ließen, aber er fand nicht die Kraft dazu.
»Zumindest kann ich meiner Sammlung ein paar neue Narben hinzufügen«, murmelte Julia.
»Das Gleiche gilt für mich.«
Julia hob den Kopf und sah ihn fragend an. »Rupert, diese Schlacht geht nicht gut für uns aus, oder?«
»Bis jetzt ist sie ein Fiasko. Die meisten unserer Leute sind tot oder schwer verwundet. Ohne die Unterstützung des Gro
ßen Zauberers sind wir nichts als lebende Zielscheiben. Es ist ein Wunder, dass überhaupt jemand davongekommen ist.«
»Rupert… hörst du das?«
»Was?«
»Da draußen ist etwas, Rupert, etwas Gigantisches! Und es kommt auf uns zu.«
Rupert starrte in die Schwärze hinaus und rappelte sich hoch, das Schwert in der Hand. Julia kam ebenfalls mühsam auf die Beine und stützte sich auf Hundsgift. Tief in der Nacht bildete sich ein blasser Schimmer. Es war das gleiche kränkliche Blau, das der Vollmond über ihnen ausstrahlte.
Der blaue Schein kroch langsam aus dem Dunkelwald heran, ein unstetes Leuchten, das sich hob und senkte und ständig seine amorphe Gestalt veränderte. Dämonen raschelten unruhig in den Schatten und wichen tiefer in das Dunkel zurück.
Was zum Henker lauert da draußen?, dachte Rupert. Was kann so entsetzlich sein, dass selbst die Dämonen Angst bekommen? Er erinnerte sich an den monströsen Wurm in der Kupferstadt und trat ein paar Schritte vor, um sich zwischen Julia und die Bedrohung aus der Schwärze zu schieben. Die Überlebenden des Heeres hatten sich hinter die grauenvolle Barrikade zurückgezogen und spähten atemlos in die Finsternis.
Ein tiefer Bass röhrte durch die Nacht, ein lang gezogenes, ohrenbetäubendes Geheul, das von sinnloser, bösartiger Wut erfüllt war. Das Dröhnen hallte noch in Ruperts Schläfen wider, nachdem es einem dumpfen, bedrohlichen Knurren gewichen und dann ganz verstummt war. Rupert warf einen flüchtigen Blick auf die Barrikade aus Toten, entschied jedoch rasch, dass es wenig Sinn hatte, in ihren Schutz zu flüchten. Das Ding, das aus dem Dunkel auf ihn zukam, ließ sich ganz sicher nicht von diesem schwachen Hindernis aufhalten. Er vernahm ein träges, gedämpftes Schlagen, das an das Pochen eines gigantischen Herzens erinnerte und ihm einen Schauder über den Rücken jagte. Er hatte diesen Laut schon einmal gehört, als er mit dem Großen Zauberer vor der Burg eingetroffen war. Der Boden bebte unter seinen Füßen, und wieder spürte er eine Eiseskälte in seinem Innern, als er das Geräusch erkannte: Es waren die schweren, gleichmäßigen Tritte eines Kolosses, der durch die Nacht stapfte und immer näher kam. Der stets gegenwärtige Gestank von Fäule und Verwesung wurde stärker, als der amorphe blaue Schimmer heranwogte, und die Schritte erschütterten die Erde wie Hammerschläge. Das schwebende blaue Licht verharrte schließlich knapp zwanzig Meter von den Verteidigern entfernt, und die Schritte verklangen. Das Licht flackerte kurz auf und umriss die Baumskelette mit seinem grellen Schein, ehe es erlosch und das Grauen preisgab, das es verhüllt hatte.
Obwohl es ganz offensichtlich seit geraumer Zeit tot war, konnte es sich bewegen und seine Umgebung wahrnehmen.
Das stumpfe weiße Fleisch war vertrocknet wie bei einer Mumie und an manchen Stellen so zerfressen, dass die bleichen Knochen zutage traten. In einem breiten Maul saßen riesige Sägezähne, und aus den leeren Augenhöhlen schossen grelle Flammen. Das Monster hatte zwei Arme und zwei Beine, und es konnte aufrecht gehen, aber damit war bereits jegliche Ähnlichkeit mit einem Menschen erschöpft. Ein langer Schwanz mit Widerhaken peitschte zornig hin und her und zerfetzte die morschen Baumstämme in seiner Reichweite. Das Ding war von den Toten auferstanden. Es hatte eine Ewigkeit unter der Erde gelegen, bis es geweckt und erneut zum Töten ausgesandt worden war. Der Boden zitterte unter seinen Füßen, und sein Hass verpestete die Luft.
»Die Schwerter!«, schrie König Johann. »Die Schwerter der Hölle! Sie sind unsere einzige Hoffnung!«
Er stolperte über die Barrikade, dicht gefolgt von Harald.
Das Heer traf Anstalten, sich zu sammeln, aber der König winkte ab. Er trat dem Ungeheuer mit festen Schritten entgegen. Harald, Rupert und Julia nahmen ihre Plätze hinter ihm ein. Das Monster hob den Kopf und verfolgte angespannt jede ihrer Bewegungen. Die Flammen in seinen Augenhöhlen flackerten unruhig. Unvermittelt blieb König Johann stehen, warf dem hoch aufgerichteten Angreifer einen zornigen Blick zu und rammte das Schwert in den Boden. Die Erde wölbte sich auf und barst, stöhnend wie ein verwundetes Tier, aber das Monster wankte nicht einmal. Während der König Felsenbrecher aus dem Erdreich zog, trat Harald vor und schwang Blitzstrahl hoch über den Kopf. Scharlachrote Flammen züngelten die Klinge entlang. Von der Schwertspitze jagte ein Feuerstrahl gegen die Brust des Ungeheuers. Es brüllte in blinder Wut, aber die Hitze konnte seinem toten Fleisch kaum etwas anhaben. Julia packte Hundsgift fester und versuchte, in einem weiten Bogen die linke Flanke des Monsters zu erreichen. Es drehte den Kopf, um ihre Bewegungen zu verfolgen, und Rupert scherte nach rechts aus. Er wusste nicht, was er gegen eine Kreatur ausrichten sollte, die längst tot war – insbesondere, nachdem die Höllenschwerter nicht mehr bewirkt hatten, als die Bestie zu reizen. Aber irgendetwas musste er tun. Die Flammen von Blitzstrahl erloschen plötzlich, als Harald das Schwert senkte, und das Monster taumelte vorwärts. Eine Klauenhand tastete nach Julia, und Hundsgift loderte in einem fahlen Gelb, während es sich in das mumifizierte Fleisch grub. Die Bestie zuckte zurück. Rupert sah, dass Hundsgift die Hand bis zum Knochen durchtrennt hatte. Es floss kein Blut, doch die Wunde stank nach Fäule und Verwesung. Knurrend griff die Kreatur Julia erneut an.
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