Draußen hämmerten die Dämonen gegen die Eichenbohlen, bis sie wie eine riesige, unirdische Kesselpauke dröhnten.
KAPITEL NEUN
Im Dunkelwald
RUPERT LAG IM BURGHOF auf dem Rücken und überlegte krampfhaft, wer da weinte. Die tränenerstickte Stimme, die seinen Namen rief, kam ihm irgendwie bekannt war, aber er konnte sie nicht richtig zuordnen. Er hätte die Frau, wer immer sie war, gern getröstet, aber er fand keine Worte, und nach einer Weile ließ das Schluchzen nach. Rupert wusste, dass er auf dem Burghof lag; das verriet ihm das Kopfsteinpflaster, das ihm hart ins Kreuz drückte. Aber alles andere war verwischt und weit weg. Er hatte kaum noch Schmerzen, und einen Moment lang beunruhigte ihn das, aber nur einen Moment lang. Er spürte Blut im Gesicht und in den Augen, und als er es wegwischen wollte, gehorchten ihm die Arme nicht. Jemand zerrte an seinem Brustpanzer, und die Stimme rief wieder seinen Namen, aber er gab keine Antwort. Es erschien ihm nicht wichtig, und er war müde, so entsetzlich müde.
Julia bemühte sich, die Reste von Ruperts Brustpanzer abzustreifen, damit sie seine Wunden untersuchen konnte, aber die Schließen waren glitschig von Blut, und sie war so erschöpft, dass sie alles verschwommen sah. Verbissen kämpfte sie gegen die Schließen an und fluchte über ihre ungeschickten Finger. Rupert hatte sich nicht bewegt, seit er zusammengebrochen war, und je eingehender Julia ihn betrachtete, desto mehr wuchs ihr Entsetzen. Er blutete so stark, dass sie eine Wunde kaum von der anderen unterscheiden konnte, und was immer sie anstellte, es gelang ihr nicht, ihn ins Bewusstsein zurückzuholen. Sie wischte ihm mit einem Stofffetzen das Blut aus dem Gesicht und erstarrte mitten in der Bewegung, als sie entdeckte, dass er sein rechtes Auge verloren hatte. Der Anblick der leeren Augenhöhle schnürte ihr den Hals zu, aber sie fand keine Tränen mehr, um ihrem Kummer Ausdruck zu verleihen. Sie wollte um Hilfe rufen, doch die Worte erstarben ihr auf den Lippen, als sie ihre Blicke über den Hof wandern ließ.
Was sie sah, war ein Schlachthaus. Tote, Sterbende und Verwundete lagen Seite an Seite. Einige der überlebenden Kämpfer hatten sich einfach zu Boden geworfen, zu erschöpft oder zu entsetzt von den schrecklichen Erlebnissen, um etwas zu trinken oder zu essen, zu müde, um jemanden zu bitten, einen Verband anzulegen. Diener liefen zwischen den Verwundeten hin und her; sie taten, was sie konnten, um die Schmerzen zu lindern. Unterdessen bewachten Frauen und Kinder mit Stöcken und Heugabeln die Zinnen der Burg.
Hoch über dem Burghof starrte der Blaue Mond unbarmherzig aus der sternenlosen Nacht herab, und jenseits des Walls hämmerten die Dämonen unablässig gegen die ächzenden Eichentore.
König Johann erhob sich mühsam und schob Felsenbrecher in die Scheide, ohne die Waffe auch nur eines Blickes zu würdigen. Trotz ihrer legendären Macht hatten die Schwerter der Hölle nur wenig gegen den Dunkelwald auszurichten vermocht. Nun waren zwei der Klingen verloren, und er hatte keinen Trumpf mehr gegen die endlose Nacht. Es ist vorbei, dachte er. Wir haben verloren. Ich tat, was ich konnte, aber es war nicht genug. Einen Moment lang kämpfte er gegen den Impuls an, einfach wegzurennen und sich zu verstecken, sich in seinen Gemächern zu verbarrikadieren und zu warten, bis ihn die Dämonen holten. Aber er wusste, dass er das nicht tun konnte. Er war der König, und er hatte mit gutem Beispiel voranzugehen. Selbst wenn das Ganze keinen Sinn mehr hatte. Harald kam ihm entgegen. Er nickte seinem Sohn wortlos zu, und dann sahen sie beide zu Rupert und Julia hinüber.
»Wie geht es ihm?«, fragte der König und musste sich zwingen, den Blick nicht abzuwenden, als er das ganze Ausmaß von Ruperts Verletzungen erkannte.
»Schlecht«, sagte Harald, und Julia fuhr wütend zu ihm herum.
»Du hast ihn einfach da draußen liegen gelassen, du Dreckskerl!«
Harald hielt ihren zornigen Blicken gelassen stand. »Wenn er den Dämonen nicht den Weg blockiert hätte, wären wir niemals in der Lage gewesen, rechtzeitig die Tore zu schlie
ßen. Der kurze Vorsprung, den er uns verschaffte, reichte aus, um alle jene zu retten, die sich in die Burg geflüchtet hatten.
Rupert wusste, dass er sich opfern würde, als er zum Eingang des Bergfrieds lief, aber er kannte seine Pflicht. Meine Pflicht bestand darin, die Tore zu verrammeln, damit sein Opfer nicht umsonst war. Ich habe das Notwendige veranlasst, Julia.
Ich habe richtig gehandelt.«
»Das tust du immer, Harald«, sagte der König. Er kniete schwerfällig neben Julia nieder und legte ihr einen Arm um die Schultern.
»Wir müssen etwas unternehmen«, flehte ihn Julia an. »Es muss irgendeinen Weg geben. Er stirbt!«
»Ja«, sagte der König leise. »Ich fürchte, du hast Recht.
Es war ein mutiger Einsatz. Der mutigste Einsatz, den ich je gesehen habe.«
»Du darfst nicht sterben!«, schrie Julia plötzlich. Sie packte Rupert an den Schultern und schüttelte ihn. »Wach auf, verdammt noch mal! Ich lasse nicht zu, dass du stirbst!«
Harald und der König versuchten sie sanft von Rupert wegzuziehen, aber sie setzte sich gegen die beiden Männer zur Wehr.
»Lasst mich durch!« Die Stimme des Großen Zauberers klang müde. Julia hörte auf, um sich zu schlagen, und drehte sich rasch um.
»Helfen Sie ihm! Sie besitzen magische Kräfte! Helfen Sie ihm!«
»Mal sehen, was ich tun kann, Mädchen.« Der Zauberer kam näher, mit langsamen, bedächtigen Schritten, wie ein uralter Mann, dem sämtliche Knochen wehtaten. Und dann erkannte Julia entgeistert, dass der Zauberer ein uralter Mann war. Das kurz zuvor noch tiefschwarze Haar war grau und von weißen Strähnen durchzogen; tiefe Falten und Runzeln zerfurchten das hagere, knochige Gesicht. Die krummen, knotigen Hände zitterten unentwegt, als er sie über Ruperts Brust ausstreckte. Einen Moment lang züngelten grelle Blitze aus seinen Fingerspitzen, und Ruperts Wunden schlossen sich. Die Blutungen kamen zum Stillstand, und die Züge des Prinzen entspannten sich ein wenig, aber er erwachte nicht aus seiner Ohnmacht. Der Große Zauberer nickte grimmig und wandte sich Julia zu. Sie spürte eine intensive Wärme, die sich in ihrem Körper ausbreitete, und als die Wärme verschwand, nahm sie die Schmerzen mit. Nur die Müdigkeit blieb und die tiefe Verzweiflung, die sie bei dem Gedanken erfasste, dass sie Rupert um ein Haar für immer verloren hätte.
»War es das?«, fragte sie den Zauberer ängstlich. »Wird er wieder gesund?«
»Ich weiß es nicht, Julia. Meine Magie ist fast erloschen, aber ich habe für ihn getan, was ich vermochte.«
»Was geschah während des Kampfes mit deiner Magie?«, fragte der König vorwurfsvoll.
»Wir wurden verraten«, entgegnete der Zauberer ruhig.
»Kurz bevor die Torflügel aufschwangen, erschien ein Diener mit mehreren Krügen Wein, mit besten Empfehlungen von dir. Wir waren alle sehr gerührt über diese Geste. Die Leute lachten, prosteten sich zu und tranken auf dein Wohl. Das Gift in dem Wein hätte ausgereicht, um ein ganzes Heer zu töten. Meine Magie war stark genug, um dem Trank entgegenzuwirken, aber die anderen waren verloren. Sie brachen im gleichen Moment zusammen, als sich die Tore öffneten, die Hände gegen die Kehlen gepresst und nach Luft ringend.
Ich hielt durch, solange ich konnte, aber dann übermannte auch mich das Gift. Als ich schließlich aus meiner Ohnmacht erwachte, sah ich ringsum Berge von Leichen, und die Schlacht war vorbei. Ich gab mein Bestes, Johann, und es tut mir Leid, dass es nicht ausgereicht hat.«
»Thomas Grey!«, rief der König plötzlich. »Er war an deiner Seite!«
»Er hatte Glück«, sagte der Zauberer. »Ihm schmeckte der Wein nicht, deshalb nippte er nur daran. Er und ich waren die beiden einzigen Überlebenden unter mehr als fünfzig Magiern.«
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