»Ich weiß«, sagte der König. »Mir geht es manchmal ähnlich. In gewisser Weise ist es aber auch ein Segen. Schließlich gibt es in deinem und in meinem Leben ein paar Dinge, an die wir uns nicht gern zurückerinnern.«
Julia schnallte die lange Silberscheide von der Schulter und betrachtete sie nachdenklich. Nun, da sie das Höllenschwert nicht mehr enthielt, sah sie irgendwie anders aus. Das Silber selbst wirkte matt und glanzlos, und die alten Runen, die tief in das Metall eingraviert waren, schienen keine geheime Botschaft mehr zu vermitteln. Julia wog die Scheide in beiden Händen und warf sie in hohem Bogen auf einen Stapel Waffen, den die heimkehrenden Kämpfer in einer Ecke des Hofes aufgeschichtet hatten. Aus der Ferne betrachtet war sie nun nur noch eine Schwertscheide unter vielen.
Julia lehnte sich gegen den Ostwall und schloss die Augen.
Es kam ihr fast verwerflich vor, sich auszuruhen, während alle anderen über den Hof rannten wie Hühner, die vor dem Kochtopf fliehen, doch solange der Zauberer nicht einsatzbereit war, gab es für sie nichts zu tun. Also setzte sie sich auf den Boden, presste den Rücken gegen das Mauerwerk, streckte die Beine aus und versuchte sich zu entspannen. Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie mit der Rechten das Seitenschwert umklammerte. Rupert hatte ihr dieses Schwert vor einer halben Ewigkeit geschenkt – zumindest schien ihr das so –, und es hatte ihr stets gute Dienste geleistet. Und das war mehr, als sie von Hundsgift behaupten konnte. Mit dem Höllenschwert in der Hand hatte sie sich nie wohl gefühlt. Sie hätte es behalten können, anstatt es in der Erdspalte verschwinden zu lassen, zusammen mit dem Monster, das es töten sollte, aber sie hatte es absichtlich losgelassen und war immer noch überzeugt davon, dass sie das Richtige getan hatte. Hundsgift war mehr als nur ein Schwert; sehr viel mehr. Es lebte und besaß ein eigenes Bewusstsein, und es hatte versucht, von ihrem Verstand und von ihrer Seele Besitz zu ergreifen. Und Julia wusste, dass sie diesem Schwert verfallen wäre, wenn sie es nur lange genug benutzt hätte. Am Ende hatte sie es aufgegeben, weil sie merkte, wie schwer sie sich davon trennen konnte.
Schritte näherten sich. Sie blinzelte kurz, erkannte Harald und schloss die Augen wieder.
»Ich sehe, du hast die Schwerthülle weggeworfen«, sagte Harald. »Eine gute Entscheidung, wenn du mich fragst. Wenn die alten Legenden stimmen, dann können die Schwerter der Hölle nie zerstört werden, und wenn man sie verliert oder sich von ihnen befreit, kehren sie irgendwann zurück zu ihren Hüllen.«
»Du glaubst diesen Quatsch?« Julia machte sich nicht die Mühe, die Augen zu öffnen.
»Ich habe in jüngster Zeit viele Dinge erlebt, die ich früher nie für möglich gehalten hätte«, entgegnete Harald ruhig.
»Deshalb habe ich die Hülle meines Zauberschwerts ebenfalls weggeworfen.«
Julia öffnete die Augen und sah ihn an. Die Schwertscheide war von seinem Rücken verschwunden, und Julia hatte das Gefühl, dass Harald ohne das Ding ein Stück größer wirkte.
Ihre Blicke trafen sich. Sie wussten beide, wie nahe sie daran gewesen waren, sich von den Zauberschwertern verführen und überwältigen zu lassen – ein Wissen, das sie nie mit anderen teilen würden. Nach einer Weile schauten sie zu Boden, vielleicht weil sie die Erinnerung verdrängen wollten.
Weil sie vergessen wollten.
»Glaubst du, dass der Zauberer den Drachen wecken kann?«, fragte Harald.
»Schwer zu sagen. Der Drache liegt jetzt seit Monaten im Winterschlaf. Rupert glaubt, dass er in den Tod hinüberdämmert.«
»Hmm. Es soll schon vorgekommen sein, dass sich auch Rupert täuscht.«
Julia sah Harald forschend an. »Du hättest das Tor doch geschlossen und ihm den Rückzug abgeschnitten, stimmt's?«
»Wie oft denn noch, Julia? Es war notwendig. Jemand musste den Bergfried verteidigen, damit die Eingänge gegen den Feind gesichert werden konnten.«
»Und warum nicht du?«
Harald lächelte. »Ich habe noch nie gern den Helden gespielt.«
»Das ist mir auch schon aufgefallen.« Julia stand mühsam auf und machte sich auf die Suche nach Rupert.
Rupert lehnte sich gegen die versperrte Stalltür und wartete ungeduldig auf das Erscheinen der anderen. Es war immer noch bitterkalt auf dem Burghof, und er bedauerte, dass er nicht nach drinnen gegangen war und sich einen dicken Mantel geholt hatte. Er schlug die Hände zusammen, hauchte die Fingerspitzen an und verschränkte schließlich die Arme vor der Brust. Kalt. Immer diese Kälte. Er spähte erwartungsvoll über das Menschengewimmel auf dem Burghof hinweg, aber von den anderen war keine Spur zu sehen. Ich weiß nicht, warum ich mir immer die Mühe mache, rechtzeitig zu erscheinen, dachte Rupert verärgert. Kein Mensch außer mir kommt zum vereinbarten Zeitpunkt! Er zog sein Schwert und begann mit ein paar einfachen Übungen, aber die Eiseskälte machte ihn ungeschickt und schwerfällig, und die eingeschränkte Sicht behinderte seine Zielsicherheit. Schließlich gab er auf und schob das Schwert wütend in die Scheide. Ob es ihm passte oder nicht, seine Tage als Schwertkämpfer waren endgültig vorbei. Vielleicht sollte er sich auf die Streitaxt umstellen. Mit einer Streitaxt traf man wesentlich leichter. Er tastete vorsichtig nach dem geschlossenen Augenlid und fluchte leise vor sich hin. Das Auge war verschwunden, aber es schmerzte immer noch. Er bewegte den linken Arm und die Schulter und nickte verdrießlich. Wahrscheinlich musste er dankbar sein, dass wenigstens einiges wieder in Ordnung gekommen war.
Bei dem Gedanken fiel Rupert das Einhorn wieder ein, und er runzelte die Stirn. Der Stallknecht hatte Sturmwind einen starken Schlaftrunk eingeflößt, um seine Schmerzen ein wenig zu lindern, und Rupert versichert, dass die Wunden letztlich verheilen würden, aber seine Stimme hatte eher skeptisch als überzeugt geklungen. Rupert seufzte müde. Ehe das Einhorn aus seiner Betäubung erwachte, war die Entscheidungsschlacht sicher zu Ende – so oder so.
Er ließ den Blick über den Hof schweifen und lächelte plötzlich, als er einen Kobold erkannte, der einen Rieseneimer mit kochendem Pech über das Kopfsteinpflaster schleppte. Rupert rief ihm einen Gruß nach, und der Kleine drehte sich verblüfft um. Er grinste breit, als er den Prinzen erkannte, und gesellte sich zu ihm. Einen Moment lang sah es so aus, als würde das Pech überschwappen, als er den schweren Eimer abstellte, und er fluchte ausgiebig. Dann wollte er Rupert die Hand reichen, sah jedoch gerade noch, wie schmutzig sie war, und salutierte zackig.
»Hallo, Prinzchen!«, feixte der kleinste Kobold. »Wie geht es immer?«
»Den Umständen entsprechend«, erwiderte Rupert. »Hast du eine Ahnung, wie es der Koboldtruppe in der Schlacht erging? Ich wurde gleich am Anfang vom Hauptheer abgeschnitten und verlor sie aus den Augen.«
»Sie sind alle tot«, erklärte der Kobold nüchtern. »Jeder Einzelne von ihnen. Sie gaben ihr Bestes, aber Kobolde werden nun mal nicht als Kämpfer oder Helden geboren.«
»Das tut mir Leid«, sagte Rupert. »Ich hatte keine Ahnung…«
»Unser Anführer starb mit ihnen«, fuhr der kleinste Kobold fort. »Er bestand darauf, seine Männer in den Kampf zu führen. Er war als Oberkobold nie so richtig glücklich, aber wir hatten keinen Besseren. Und er gab sich echt Mühe. Armer Kerl. Kam wohl nie über den Tod seiner Familie während des ersten Dämonen-Überfalls hinweg.«
»Und wer ist jetzt euer Anführer?«, wollte Rupert wissen.
Der kleinste Kobold grinste breit. »Ich natürlich – wer sonst? Ich habe vielleicht wenig Ahnung vom Heldentum, aber ich verstehe mich auf fiese Tricks und gemeine Fallen.
Wenn du mich jetzt entschuldigst, Prinzchen – ich muss den Eimer zu den Wehrgängen bringen, bevor das Pech kalt wird.
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