Immer häufiger entdeckte er Lücken in seinem Gedächtnis.
Kleinigkeiten meistens, aber immerhin. Du wirst alt, dachte er gallig. Hast zu viele Jahre auf dem Buckel. Oder zu viel Fusel im Hirn. Oder beides. Ja genau, beides. Er nahm einen weiteren tiefen Zug. Der Wein tropfte ihm über das Kinn.
Wenn er sich nur an den Text dieses Liedes erinnern könnte!
Eleanor hatte dieses Lied so geliebt.
Sie standen zusammen auf dem Balkon und betrachteten das Feuerwerk, das leuchtende Farben in den Nachthimmel spritzte. Hinter ihnen, im Großen Saal, war der Siegesball in vollem Gang. Eine schwache Sommerbrise bauschte das Gewand des Zauberers und strich sanft über Eleanors Haar.
Es hatte die Farbe von Sommerweizen, und sie trug ein blaugoldenes Kleid. Nur an ihre Augen konnte er sich nicht mehr erinnern. Im Hintergrund spielten und sangen die Barden ihr Lied, halb übertönt vom Geplauder der Höflinge. Der Zauberer betrachtete das Feuerwerk. Er hatte die Vorführung bis in die letzte Einzelheit geplant, aber am Schluss misslang dann meistens doch irgendetwas. Launische Dinger, solche Feuerwerke. Eine Rakete zerplatzte in der Nacht, und ihr Gefunkel nahm die Form eines Löwenhauptes an. Der Zauberer lächelte und entspannte sich ein wenig. Eleanor nahm seinen Arm und schmiegte sich an ihn. Er konnte sich einfach nicht an ihre Augen erinnern.
Das Feuerwerk ist wunderschön.
Danke, Eure Majestät.
Müssen Sie immer so steif sein, Sir Zauberer? In einer Nacht wie dieser sollte es keine Formalitäten zwischen Freunden geben. Nennen Sie mich Eleanor!
Wie Sie wünschen, Eleanor.
So ist es besser. Und Sie – wie heißen Sie?
Wer den Namen eines Zauberer kennt, besitzt Macht über ihn.
Tut mir Leid. Das wusste ich nicht.
Das konnten Sie nicht wissen.
Oh, sehen Sie sich das an! Ein Wasserf all! Wo nehmen Sie nur die Einf älle her? Es ist eine wunderbare Nacht, Sir Zauberer.
Ja, Eleanor.
Ich glaube nicht, dass ich jemals glücklicher war. Johann kehrt siegreich aus dem Grenzkrieg zurück, die Ernte war gut und ist sicher in den Scheunen, und… und mein bester Freund auf der Welt veranstaltet zu meinem Geburtstag ein herrliches Feuerwerk! Das ist f ast zu viel des Schönen. Und die Barden spielen mein Lieblingslied! Kommen Sie, tanzen Sie mit mir, Sir Zauberer! Bitte!
Ich… weiß nicht, ob sich das f ür mich geziemt, Eleanor.
Der Hof…
Dann tanzen wir eben hier, auf dem Balkon. Nur wir beide, ganz allein.
Ihr Parfüm machte ihn schwindlig, als sie zusammen tanzten, Hand in Hand, Wange an Wange, sich mit langsamen, anmutigen Schritten im Takt der leisen Musik wiegten.
Er konnte sich nicht an ihre Augen erinnern.
Der Große Zauberer starrte die halb leere Flasche in seiner Hand an und machte sich bittere Vorwürfe, dass er den Schwarzen Turm je verlassen hatte. Er hätte nie auf die Burg des Waldkönigreichs zurückkehren sollen. In seinem Turm, verborgen vor dem Rest der Welt, mit seinem Fusel und seiner Arbeit, war er sicher gewesen. Sicher vor seiner Vergangenheit, seinen Erinnerungen und all den Dingen, die man von ihm erwartete. Er hätte nie zurückkehren sollen.
Seine Blicke schweiften über den Hof, und er nickte Rupert zu, der auf ihn zukam und sich zu ihm gesellte. Rupert warf einen Blick auf die Flasche in seiner Hand und presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.
»Ich weiß«, sagte der Zauberer, »das gefällt Ihnen nicht.
Aber Zauberer hin oder her, ich brauche etwas, das mir Mut macht.« Er nahm einen langen Zug aus der Flasche und wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab. »Ich versichere Ihnen immer wieder, dass ich nicht der allmächtige Magier bin, für den mich die Leute hier halten. Es gibt keine richtigen Zauberer mehr. Jedenfalls keine mehr wie früher. Die Magie schwindet aus der Welt, Rupert. Und warum? Weil wir sie zerstören!«
»Wir?«, fragte Rupert.
»Der Mensch«, erklärte der Zauberer. »Der Mensch macht alles zunichte. Seine Logik und Vernunft werden letztlich der Tod der Magie sein. Die Magie wirkt nach ihren eigenen Gesetzen, und die scheren sich wenig um Ursache und Wirkung. Deshalb sind und waren alle wahrhaft großen Zauberer stets Exzentriker. Sie beherrschten ihr Fach, weil sie ebenso launisch und widersprüchlich waren wie die Magie, die sie studierten. Die Zauberei besitzt durchaus Struktur und Logik, aber es ist keine Menschenlogik. Die Prinzipien, denen sie gehorcht, sind eher Abkommen und Übereinkünfte als Naturgesetze. Ich verwirre Sie, nicht wahr? Die Magie ist ein verwirrendes Geschäft. Jahr für Jahr gibt es weniger Menschen, die ihren Verstand so verbiegen können, dass sie die Zauberkunst beherrschen. Jahr für Jahr gibt es weniger Menschen, die verrückt genug sind, um die Magie zu begreifen, und zurechnungsfähig genug, um ihren Fallstricken zu entgehen.
In nicht allzu langer Zeit wird die Magie aus dieser Welt verschwunden sein, Rupert. Verdrängt von der Menschheit mit ihrem Hang zur Logik und Vernunft und einfachen, leicht verständlichen Antworten. An die Stelle der Magie wird die Wissenschaft treten, und dann geht es uns vermutlich bei weitem besser. Auf die Wissenschaft ist immer Verlass. Alles, was uns dabei verloren geht, sind ein wenig Poesie, ein wenig Schönheit… und vielleicht ein wenig von den Wundern dieser Welt. Keine Drachen mehr. Keine Einhörner mehr. Keine Kobolde oder Feen.«
»Und keine Dämonen mehr«, ergänzte Rupert.
»Alles Schlechte hat irgendwo sein Gutes.« Der Zauberer wollte erneut die Flasche ansetzen und senkte sie mit einem Achselzucken, als er Ruperts Blick sah. »So ironisch es klingt
– das Einzige, was die Magie am Leben erhalten könnte, ist der Blaue Mond selbst. Aber das wäre Wilde Magie, und eine Welt unter der Herrschaft der Wilden Magie hätte keinen Platz für die Menschen. Für die Wilde Magie gibt es weder Vernunft noch Logik, weder Abwägen noch Kontrolle –
nichts außer schierer Macht. Die Macht, die Realität selbst zu verändern. Wenn wir diese Schlacht gegen den Dämonenfürsten verlieren, Rupert, dann ist alles zu Ende. Dann wird sich der Dunkelwald über die Welt ausbreiten und alles außer den Dämonen vernichten.
Alles menschliche Leben zumindest. Manche Kreaturen werden auch den Dunkelwald überdauern. Das ist immer so.
Im Burggraben gibt es ein solches Geschöpf, tief unter dem Eis. Ein faszinierendes Ding.«
»Das Burggraben-Ungeheuer!«, sagte Rupert.
»Nennt ihr es so?« Der Zauberer zog fragend die Augenbrauen hoch. »Es war einmal ein Mensch, den ich verwandelt habe, vor langer Zeit.«
»Ganz recht«, erklärte Rupert. »Und wenn ich sonst schon nichts erreichen kann, dann will ich wenigstens diese Sache in Ordnung bringen. Nehmen Sie Ihren Zauber zurück!«
»Wie bitte?«
»Nehmen Sie Ihren Zauber zurück!«, befahl Rupert kategorisch. »Das Ungeheuer wurde als Mensch geboren und sollte die Gelegenheit bekommen, als Mensch zu sterben, nicht als… als irgendeine Kreatur.«
»Aber es will nicht zurückverwandelt werden«, widersprach der Zauberer. »Es ist glücklich in seinem Burggraben.
Das hat es mir ausdrücklich versichert, als ich mich mit ihm unterhielt.«
Rupert warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Sie machen Witze!«
»Ich mache nie Witze«, sagte der Zauberer kühl. »Es war nur ein Bann auf Zeit. Er hätte sich jederzeit selbst zurückverwandeln können, nachdem die Frist abgelaufen war. Wenn er es nicht tat, dann deshalb, weil ihm seine neue Form besser gefiel.«
Rupert sah sein Gegenüber prüfend an, aber die Miene des Zauberers blieb ernst.
»Ich glaube, ich sollte noch ein paar Worte mit meinem Einhorn wechseln«, sagte der Prinz schließlich. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden…«
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