»Dürfen wir ihn nicht wenigstens ein paarmal gegen die Wände werfen?«, bettelte der kleinste Kobold.
»Vielleicht später«, versprach Rupert.
Die Kobolde murrten enttäuscht und entfernten sich zögernd, nachdem sie Harald noch ein paarmal kräftig geschubst hatten. Der Kronprinz setzte sich auf, sah hasserfüllt in die Runde und tastete unauffällig nach seinem Schwert, senkte aber den Arm, als er merkte, dass hundert gut bewaffnete Kobolde jede seiner Bewegungen beobachteten. Also beschloss Harald, das Kleine Volk keines Blickes mehr zu würdigen. Er rappelte sich auf und nahm mühsam eine würdevolle Haltung ein.
König Johann beobachtete Rupert, der sich leise mit dem Anführer der Kobolde unterhielt. Anfangs war er eher belustigt über die Ehrfurcht des Kleinen Volkes gewesen, aber allmählich dämmerte ihm, dass sich hinter der lächerlichen Bewunderung Ehrfurcht und echter Respekt verbargen. Seit sich die Kobolde auf der Burg befanden, hatten sie sich kein einziges Mal vor dem König verneigt. Und wenn das jemand von ihnen verlangt hätte, so wären die rebellischen kleinen Geschöpfe vermutlich in lautes Gelächter ausgebrochen. Aber Rupert zeigten sie freiwillig ihre Ehrerbietung. Ebenso wie die Gardesoldaten, die mit ihm aus der langen Nacht zurückgekehrt waren. Wenn man die Geschichten hörte, die sie in den Kasernen erzählten, konnte man Rupert für einen jener Helden halten, die in den Balladen besungen wurden. Sogar der Champion war voll des Lobes über Ruperts Mut und Kampfgeschick gewesen. Sogar der Champion… König Johann runzelte die Stirn und zupfte sich am Bart. Darüber musste er nachdenken. Rupert schickte sich tatsächlich an, ein Krieger und ein Held zu werden, und das… war gefährlich.
»Ich muss jetzt los«, sagte Rupert zum Anführer der Kobolde. »Wir haben es furchtbar eilig. Ihr wisst sicher, dass wir in ein paar Stunden gegen die Dämonen ins Feld ziehen, oder?«
»Klar«, entgegnete der Anführer der Kobolde mit barscher Stimme. »Einige von uns werden Sie begleiten. Wir haben nicht vergessen, was die Dämonen uns und unseren Familien antaten. Sie kamen in der Nacht, als kein Mond am Himmel stand. Sie töteten zuerst unsere Kinder und dann unsere Frauen, und nur die wenigen unter uns, denen die Flucht gelang, überlebten, um von dem Massaker zu berichten. Damals wussten wir nichts von Hass und Rache. Wir wussten nicht, wie man sich zur Wehr setzt. Aber wir haben in kurzer Zeit viel gelernt. Es heißt, die Menschen können vergessen, Prinz Rupert. Vielleicht bringen sie uns auch das irgendwann bei.
Wir vergäßen vieles so gern, aber wir wissen nicht, wie das zu bewerkstelligen ist. Wir haben immer noch das Blut und den Tod vor Augen, und in unseren Ohren hallen immer noch die Schreie wider.
Immerhin haben wir gelernt, wie man Dämonen tötet. Das reicht für den Augenblick. Wenn wir schon keinen Seelenfrieden finden, geben wir uns mit Rache zufrieden. Vielleicht lernen wir auch noch, tapfer zu sein, jetzt, da wir keine andere Wahl haben.«
Rupert streckte die Hand aus, und der Anführer der Kobolde nahm sie fest zwischen seine knorrigen Finger.
»Sie werden eines Tages stolz auf uns sein, Prinz Rupert.«
»Ich bin jetzt schon stolz auf euch«, sagte Rupert. »Ich bin es jetzt schon.«
Der Anführer der Kobolde nickte kurz, ehe er sich umdrehte und in den Schatten zurückzog. Sekunden später verschmolz auch seine Truppe mit dem Dunkel des Korridors – ebenso lautlos, wie sie aufgetaucht war. Rupert blinzelte heftig und drehte sich erst zu seinen Begleitern um, als seine Augen wieder trocken waren. Der König warf ihm einen sonderbaren Blick zu, sagte aber nichts. Harald brachte unauffällig seine Kleidung in Ordnung und tat so, als wäre überhaupt nichts vorgefallen. Der Seneschall lehnte ein Stück weiter vorn an der Wand, starrte die Decke an und wippte ungeduldig mit den Zehenspitzen.
»Können wir jetzt weitergehen?«, fragte er mit Blick zur Decke hinauf. »Diese Konversationen mögen ja sehr aufschlussreich sein, aber sie bringen uns keinen Schritt näher an das Arsenal heran.«
»Einen Augenblick, Sir Seneschall«, unterbrach ihn der König. »Sie haben einen Weg um den fehlenden Turm herum gefunden?«
»Amateure!«, seufzte der Seneschall. »Immer muss ich mich mit Amateuren herumplagen. Natürlich habe ich einen Weg um den Turm herum gefunden. Das ist schließlich meine Aufgabe, oder? Hat man mich nicht aus den warmen Federn gerissen, weil ich mich als Einziger in diesem verdammten Labyrinth auskenne? Nun folgen Sie mir bitte und bleiben Sie ganz in meiner Nähe! Ich kann meine kostbare Zeit nicht damit verschwenden, dass ich mich um jeden Nachzügler einzeln kümmere.«
»Natürlich nicht, Sir Seneschall«, beschwichtigte ihn der König.
Leise vor sich hin schimpfend humpelte der Seneschall den Korridor entlang, und nach kurzem Zögern setzte sich die kleine Gruppe in Bewegung. Rupert übernahm wieder die Nachhut. Er zog nachdenklich die Stirn kraus, während er über die Worte des Seneschalls nachsann. Was zum Henker hatte dieser fehlende Turm zu bedeuten, und warum war es so wichtig, dass man ihn mied? Und überhaupt, wie waren die Dämonen in den Südflügel gelangt? Rupert schüttelte grimmig den Kopf. Man hatte ihm wieder mal jede Menge Neuigkeiten vorenthalten. Offensichtlich war viel geschehen, seit Julia den Südflügel wieder entdeckt hatte, doch das erstaunte ihn nicht sonderlich. Wo immer Julia ihre Finger im Spiel hatte, gab es Komplikationen. Ein Lächeln huschte über Ruperts Züge, und dann bemühte er sich krampfhaft, an etwas anderes zu denken. Die Erinnerung an Julia bereitete noch zu große Schmerzen.
Die Lichter wurden spärlicher, als die Gruppe tiefer in den Südflügel vordrang. Korridore wechselten mit breiten Galerien, Sälen, Rotunden und scheinbar endlosen Treppen, bis die Männer schließlich vor dem Arsenal standen. Der Seneschall sperrte das hohe Portal auf und trat einen Schritt zur Seite, damit der König als Erster über die Schwelle treten konnte, aber einen Moment lang blieben alle unschlüssig stehen. Rupert starrte die Flügeltüren an und spürte ein leises Kribbeln, das eine Mischung aus Angst und Ehrfurcht in ihm hervorrief. Seit nunmehr fast vierzehn Generationen war das Arsenal die Waffenkammer der Waldkönige. Jenseits dieses Portals lagen alle jene geschichts- und legendenträchtigen Klingen, all jene Waffen der Helden, Schurken und besiegten Feinde des Reiches. Und irgendwo im Dunkel jenseits dieses Portals lagen die Schwerter der Hölle: Felsenbrecher, Blitzstrahl und Hundsgift.
Rupert musterte den König, der immer noch keine Anstalten traf, das Arsenal zu betreten. Seine Züge waren ernst und angespannt, und Schweißperlen drangen unter dem Stirnreif hervor. Ruperts Blicke streiften Harald, aber der verbarg seine Gefühle wie gewohnt hinter einer Maske kühler Gelassenheit. Und vielleicht bildete sich Rupert nur ein, in den Augen seines Bruders einen gierigen Glanz zu erkennen.
Rupert betrachtete wieder das einladende Portal, trat entschlossen vor und schob den linken Flügel auf, der lautlos nach innen schwang, obwohl er seit vielen Jahren nicht mehr bewegt worden war. Der Seneschall war im Nu an seiner Seite und hielt eine lodernde Fackel hoch, während Prinz Rupert die Schwelle zum Arsenal der Waldkönige überschritt.
Der Saal war so weitläufig, dass seine Grenzen im Dunkel jenseits des Fackelscheins verschwammen. Links und rechts und vor ihm ragten Klingen auf, von denen er sein Leben lang gehört hatte, ohne sich jedoch die Hoffnung zu machen, sie jemals zu Gesicht zu bekommen. Langsam ging Rupert durch den schmalen Mittelgang. Schwerter, Äxte und Streitkeulen füllten die Waffenregale und hingen stolz an den Wänden, das ziselierte Metall und die reich verzierten Lederhüllen dank der Magie des Arsenals makellos erhalten. Unter einem schlichten Messingschild, in dem der Name eingraviert stand, hing das berühmte Breitschwert Rechtsprecher, das sieben Waldkönige nacheinander gedient hatte, bis es schließlich so schartig und verbeult war, dass es keinen scharfen Schnitt mehr ausführen konnte. Nicht weit davon entfernt erhob sich die schlanke Silberklinge namens Verräter, die der schnöde Sternenlicht-Herzog während der kurzen Zeit seiner gewaltsamen Machtübernahme geschwungen hatte. Und mehr…
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