»Du bist dir deiner Sache sehr sicher, Harald.«
»Allerdings. Oder glaubst du wirklich, Rupert nähme dich noch, wenn er wüsste, wie nahe wir uns während seiner Abwesenheit gekommen sind?«
»Ich glaubte, er sei tot.«
»Ich bezweifle, dass das für Rupert einen großen Unterschied macht. Er war schon immer eher… altmodisch… in solchen Dingen. Finde dich mit den Tatsachen ab, meine Liebe! Du hast mein Bett gemacht – und jetzt musst du darin schlafen! Vergiss Rupert! Wir werden in Kürze heiraten, Julia, und als meine Gemahlin musst du lernen, mir zu gehorchen.«
Julia zog mit einem Ruck das Knie hoch, und Harald krümmte sich keuchend. Ohne sich nach ihm umzusehen, eilte sie auf die Tür zu, hinter der Rupert verschwunden war.
Ein einziger Gedanke trieb sie vorwärts: Wenn sie jetzt nicht Rupert sprach, zog er womöglich in dem Glauben gegen die Dämonen, dass sie ihn nicht mehr liebte. Und sie konnte ihn nicht so in den Tod gehen lassen.
Sie stürmte aus dem Thronsaal und den Korridor entlang, der zu den Privatgemächern des Königs führte. Einen Moment lang verschnaufte sie an der Eingangstür, ehe sie höflich klopfte. Niemand forderte sie zum Eintreten auf, und als sie den Drehgriff betätigen wollte, gab er nicht nach. Sie boxte mit der Faust gegen das massive Holz und wich plötzlich einen Schritt zurück, als im Paneel ein glühendes Auge erschien und sie anstarrte. Julia begann am ganzen Leib zu zittern. Alle ihre Instinkte befahlen ihr, kehrtzumachen und zu fliehen, aber sie blieb eisern stehen und starrte trotzig zurück.
Diese Tür ist versiegelt, sagte eine kalte Stimme in ihrem Kopf.
»Du musst mich einlassen«, flehte Julia. »Ich muss den König sprechen.«
Nur Prinz Harald, Prinz Rupert und der Große Zauberer haben hier Zutritt, erklärte die kalte Stimme. Für alle anderen sind die Räume versiegelt. Geh jetzt!
»Ich muss den König sprechen! Es ist wichtig!«
Geh jetzt!
»Verdammt, lass mich durch!«
Julia griff nach ihrem Schwert, und ein greller Blitz schleuderte sie zu Boden. Sie schüttelte den Kopf, um ihre Gedanken zu ordnen, und erhob sich unsicher, sorgsam darauf bedacht, das Schwert nicht mehr zu berühren. Das Auge in der Tür starrte sie ruhig an, hell, metallisch und ganz und gar unmenschlich.
Geh, sagte die kalte Stimme. Geh jetzt!
Julia bedachte das unerbittliche Auge mit wütenden Blicken, ehe sie sich abwandte und den Korridor zurückging.
Das Auge sah ihr nach, schloss sich dann und verschwand wieder im Türpaneel. Julia kehrte langsam in den Thronsaal zurück. Was immer König Johann mit seinen Söhnen und dem Großen Zauberer zu besprechen hatte, musste verdammt wichtig sein, wenn er sich mit einem derart mächtigen Bann vor unbefugten Eindringlingen schützte. Dann würde sie eben später mit Rupert sprechen.
Sie musste ihm die Wahrheit sagen, solange noch Zeit dazu war.
Tief im ständigen Halbdunkel des Südflügels schwang langsam eine verborgene Tür auf, und Lord Darius trat in den Gang hinaus. Er spähte vorsichtig umher, aber nichts und niemand bewegte sich in der breiten, leeren Galerie, die sich zu beiden Seiten erstreckte, kalt, dunkel und still. Mit einem schwachen Lächeln zog Darius die Tür hinter sich zu. Sie schloss sich mit einem kaum hörbaren Klicken, und nichts deutete mehr darauf hin, dass die Wandvertäfelung ein Geheimnis barg. Eine einzelne Fuchsfeuer-Ampel nahe der Decke verbreitete ein trübes Licht, aber Darius hatte seine Augen so an das Dunkel gewöhnt, dass er den Korridor deutlich erkennen konnte. Seine Blicke glitten unruhig hin und her. Er fühlte sich nach dem langen Aufenthalt in dem engen, verwinkelten Tunnellabyrinth hier im Freien nicht besonders wohl, und so kauerte er sich mit dem Rücken zur Wand auf dem Boden nieder. Die einst so modische Kleidung starrte vor Schmutz und umschlotterte seinen ausgezehrten Körper.
Die Haut wirkte fleckig und wächsern und bildete schlaffe Falten um Wangen und Kinn, weil er in zu kurzer Zeit zu viel Gewicht verloren hatte. Niemand aus der noblen Hofgesellschaft hätte den eleganten Lord Darius wiedererkannt, der wie eine dürre, halb wahnsinnige Vogelscheuche auf dem Boden hockte, weil er die Dämmerung dem Licht vorzog.
Seine verquollenen Augen glitzerten, als er in das Halbdunkel blinzelte, bereit, beim geringsten Anzeichen von Gefahr die Flucht zu ergreifen. Immer wieder tastete er ruhelos nach dem Dolch in seinem Ärmel, aber kein Schatten bewegte sich, und kein Laut außer seinem eigenen unregelmäßigen Atem unterbrach die Stille. Der Südflügel lag so verlassen da wie seit vielen Jahren, aber in der dumpfen Luft lastete eine Spannung, als ahnten die Steine selbst, dass etwas Böses durch die leeren Korridore schlich.
Ein kalter, düsterer Ausdruck lag auf Darius' Zügen, als trage er ein furchtbares Wissen mit sich herum, von Dingen, die im Dunkel geplant und ausgeführt werden mussten, weil sie das Licht des Tages scheuten. Rupert hätte diesen Ausdruck richtig gedeutet. Er hatte die endlose Nacht durchquert und etwas von jener Finsternis war für immer in seiner Seele zurückgeblieben. Der Dunkelwald hatte sie beide gezeichnet, aber während Rupert dagegen ankämpfte, hatte sich Darius bereitwillig in sein Schicksal ergeben – in der Hoffnung auf den versprochenen Lohn.
Darius hielt die linke Hand hoch, und Flammen umflackerten seine Finger, ohne sie zu versengen. Er besaß jetzt Macht, die dunkle Macht seines Herrn und Meisters, und mit dieser Macht wollte er alle offenen Rechnungen begleichen, alle Kränkungen rächen. Darius lachte leise, und die Flammen verschwanden. Er kauerte allein im Schatten, stumm und stumpf, und wartete in der Stille und Kälte des verlassenen Südflügels auf jene, die er fürchtete und hasste.
König Johann seufzte und beobachtete mürrisch, wie sein Atem in der frostigen Luft dampfte. Er wickelte sich enger in seinen Umhang und rückte den Sessel etwas näher an das schwach glimmende Feuer. Selbst in seinen Privatgemächern tief im Innern der Burg konnte er der bitteren Kälte des Dunkelwaldes offenbar nicht entrinnen. Er warf einen nachdenklichen Blick auf den Großen Zauberer, der auf der anderen Seite des Kamins Platz genommen hatte. Der Magier lümmelte wie ein Bauer in seinem Lehnstuhl und nagte an einem Hühnerbein. Die Kälte schien ihm nicht das Geringste auszumachen.
Lampen und Kerzen nahmen jedes freie Fleckchen des überladenen Zimmers ein, und doch wirkte der Raum insgesamt eher düster. In der Vergangenheit hatte der König stets Kraft und Trost aus den alten Mauern gezogen, die ihn Schicht um Schicht einhüllten, Kraft und Trost aus der Magie und den Mysterien der Waldburg, die sein Erbe und seine angestammte Heimat war. Seit zwölf Generationen hatten seine Vorfahren das Waldkönigreich gegen alle Gefahren verteidigt, und Johann war immer davon überzeugt gewesen, dass etwas von ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit in der Burg selbst fortlebte. Aber nun war die lange Nacht angebrochen, und all die Magie der ehrwürdigen Gemäuer hatte nicht ausgereicht, um den Dunkelwald fern zu halten. Der König zog gereizt die Stirn kraus; eine wahrhaft schlimme Zeit, wenn ein Mensch nicht einmal mehr in den eigenen vier Wänden Trost und Frieden fand. Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine Züge, als ihm die Kleinlichkeit seiner Gedanken zu Bewusstsein kam, und er schob sie entschlossen beiseite. Wieder musterte er den Großen Zauberer, und nicht alle Erinnerungen, die ihm dabei durch den Kopf gingen, waren schlecht. Obwohl er und der Zauberer nie enge Freunde gewesen waren, hatten sie doch viele Jahre gut zusammengearbeitet. Eine Zeit lang hatte er den Magier sogar als seinen starken rechten Arm betrachtet, aber das lag weit zurück. Das lag so weit zurück.
Der Zauberer löste die letzten Fleischfasern von dem Hühnerbein, und noch während der König ihn beobachtete, zerbrach er den Knochen und saugte das Mark aus, wie ein Kind, das an einer Zuckerstange lutscht. Als er fertig war, warf er den Knochen ins Feuer und wischte sich die fettigen Finger an seinem Gewand ab. König Johann schaute weg. Der Große Zauberer, an den er sich erinnerte, war elegant und kultiviert gewesen, fast so etwas wie ein Dandy. Stets nach der neuesten Mode gekleidet und jede Locke an ihrem Platz. Und er hatte bis zum bitteren Ende Haltung bewahrt. Nach den Worten der Tavernenwirte war er der würdevollste Säufer gewesen, den sie je gesehen hatten. Johann musste unwillkürlich lächeln, doch er wurde wieder ernst, als ihm andere Dinge in den Sinn kamen. Er schloss die Augen, und nach einer Weile verblassten die schlimmen Bilder, obwohl ein leiser Schmerz zurückblieb, wie immer. Er sah erneut den Zauberer an, der geistesabwesend ins Feuer starrte. Seine Miene war ausdruckslos, und Johann hatte keine Ahnung, woran der Mann dachte.
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