Ich bin nur der nachgeborene Sohn, dachte er bitter. Und das werde ich ewig bleiben. Es konnte nicht lange dauern, bis Julia entdeckte, wer in unserer Familie das Sagen hat. Er warf einen letzten Blick auf die prachtvolle blonde Prinzessin, die mit Prinz Harald schäkerte, und wandte sich dann ab.
Das ist nicht die Frau, die ich kannte, dachte er müde. Das ist nicht die Frau, die Seite an Seite mit mir im Dunkelwald kämpf te… die Frau, die ich lieben lernte. Jene Julia war nur eine Illusion, ein Traum, geboren aus der gemeinsam bestandenen Gef ahr… und aus der Einsamkeit. Ich hätte es besser wissen müssen.
Er ging in steifer Haltung an dem leeren Thronpodest vorbei auf die Privatgemächer des Königs zu, die Pflicht wie eine schwere Last auf den Schultern. Aber das machte ihm nichts aus. Es war alles, was er noch hatte.
Julia schaute ihm nach und biss sich auf die Unterlippen. Sie wollte ihn zurückrufen, aber das ließ ihr Stolz nicht zu. Es lag an ihm, den ersten Schritt zu tun; sie dachte nicht daran, zu Kreuze zu kriechen. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, nach all den Monaten, als sie ihn für tot gehalten hatte… Als die Nachricht von seiner unversehrten Heimkehr zu ihr durchgedrungen war, hatte sie vor lauter Freude und Fassungslosigkeit nicht gewusst, ob sie lachen oder weinen oder durch die Gänge tanzen sollte. Sie hatte den Seneschall gedrängt, ihr zu verraten, wo sich Ruperts Räume befanden, und war den ganzen Weg dorthin gerannt, um ihn willkommen zu heißen, nur damit er sie mit eisiger Kälte empfangen und beleidigen konnte. Sie hätte ihm die Sache mit Harald und der Hochzeit schon erklärt, wenn er ihr die Möglichkeit dazu gegeben hätte. Aber nein, er musste den Gekränkten mimen!
Dazu hatte er kein Recht. Er wusste nicht, wie sie sich auf dieser Burg gefühlt hatte, ganz allein, während die Finsternis immer näher rückte. War es vielleicht ein Wunder, dass sie sich Harald zugewandt hatte, als er verschollen blieb und der Drache allem Anschein nach seinem Tod entgegendämmerte?
Sie hatte Trost gebraucht, und es gab niemanden sonst…
Julia sah Rupert nach, bis er aus dem Thronsaal verschwunden war, und ihre Hände waren so fest zu Fäusten geballt, dass sie schmerzten.
Dann warf sie einen Blick auf Harald. Der Kronprinz starrte nachdenklich die Tür an, die sich langsam hinter seinem Bruder schloss. Julia konnte nicht leugnen, dass Harald in den vergangenen Monaten immer mehr in den Mittelpunkt ihres Lebens gerückt war. Dennoch wusste sie nicht so recht, was sie für ihn empfand. Er benahm sich freundlich, aufmerksam, charmant – und doch entdeckte sie manchmal in seinen Augen eine Kälte, die sie frösteln ließ.
Zweifellos hatte Harald seine Fehler, aber Julia war beeindruckt von der ruhigen Sachkenntnis, mit der er die Dinge in die Hand genommen hatte, als die Dunkelheit immer näher rückte und die Lage sich mit jedem Tag verschlimmerte.
König Johann hatte sein Bestes getan, doch als der Strom der Flüchtlinge aus den von Pest und Dämonen heimgesuchten Gebieten nicht abreißen wollte, war ihm nichts anderes übrig geblieben, als seine Ohnmacht einzugestehen. Harald und der Seneschall hatten ihm einen Großteil der Last abgenommen, aber König Johann war zunehmend verbittert und niedergeschlagen geworden. Er machte sich Vorwürfe, dass er die Herrschaft über sein Reich verloren hatte, und regierte immer lustloser, sodass Harald gar keine andere Wahl blieb, als die meisten Entscheidungen allein zu treffen. Er machte seine Sache gut – zumindest so gut, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war.
Und trotz all seiner Probleme fand Harald die Zeit, sich mit ihr zu unterhalten und ihr Gesellschaft zu leisten. Er war längst nicht mehr der aufdringliche, ungestüme Verehrer, der sie mit seinen plumpen Aufmerksamkeiten verfolgte. Julias Mundwinkel zuckten in einem Anflug von Heiterkeit. Wenn schon sonst nichts, so hatte sie Harald zumindest Manieren beigebracht. Sie betrachtete ihn beinahe zärtlich, doch dann erstarb ihr Lächeln, als sie sah, wie sich seine Miene jäh veränderte. Harald starrte immer noch die Tür an, die sich hinter Rupert geschlossen hatte, und plötzlich gruben sich harte, unnachgiebige Linien in sein Gesicht, die sein sonst so liebenswürdiges Äußeres völlig veränderten. Julia beobachtete ihn verblüfft; es war, als hätte er eine Maske abgelegt, hinter der nun eine völlig verwandelte Persönlichkeit auftauchte. Sie runzelte nachdenklich die Stirn, unschlüssig, ob sie sich über den neuen Harald freuen sollte oder nicht. Sie entdeckte Energie in seinen Zügen, Entschlossenheit und einen eisernen Willen, aber sie sah auch Furcht, und plötzlich fiel es Julia wie Schuppen von den Augen: Harald hatte Angst vor Rupert. Doch im nächsten Moment war alles vorbei.
Harald setzte seine gewohnte Maske auf, drehte sich um und sah Julia mit einem Lächeln an. Alles Einbildung, sagte sie sich. Die kalte, mörderische Wut, die du in seinen Augen gesehen haben willst, existiert nur in deiner Phantasie!
»So, Julia«, sagte Harald freundlich, »der König erwartet mich. Aber ich denke, die Beratung wird nicht lange dauern.
Warum kommst du nicht in etwa einer Stunde in meine Suite?
Uns bleibt noch ein wenig Zeit, ehe ich unsere Truppen in den Kampf führen muss.«
»Ja«, sagte Julia. »Natürlich. Harald, ich…«
»Es geht um Rupert, nicht wahr?«, fragte Harald. »Mach dir seinetwegen keine Sorgen, mein Schatz! Du wirst ihn vergessen, wenn wir erst verheiratet sind. Du musst nicht einmal mit ihm sprechen, wenn du nicht willst. Das wäre vielleicht sogar das Beste. Rupert hat einen ungünstigen Einfluss auf dich – obwohl ich, ehrlich gestanden, nie ganz begreifen konnte, was du an ihm findest. Wenn unser Gespräch mit Vater vorbei ist, wird er sich wohl irgendwo verkriechen, bis er im Morgengrauen mit uns in die Schlacht ziehen muss. Rupert schwingt zwar große Reden, aber ein großer Kämpfer war er nie.«
»In eurem letzten Duell blieb er immerhin Sieger«, entgegnete Julia und ärgerte sich im nächsten Moment über ihre Antwort.
Harald musterte sie scharf. »Reiner Dusel. Er hatte ein paar neue Tricks auf Lager, das ist alles. Das nächste Mal…«
»Einen Augenblick!« Julias Augen wurden plötzlich schmal. »Habe ich mich eben verhört, oder stimmt es, dass Rupert im Morgengrauen mit in die Schlacht ziehen wird?«
»Natürlich wird er das«, sagte Harald. »Es ist seine verdammte Pflicht!«
»Das kann nicht dein Ernst sein! Du hast ihn im Thronsaal gesehen. Er ist mit seinen Kräften am Ende.«
Harald zuckte kühl mit den Schultern. »Das lässt sich nicht ändern. Das Volk erwartet, dass Rupert, Vater und ich an der Spitze des Heeres reiten. Jemand muss den Haufen schließlich befehligen. Obwohl es ziemlich gleichgültig ist, ob Rupert auftaucht oder nicht, solange ich zur Stelle bin. Ich bin der Kronprinz, mir werden sie folgen.«
»Er wird da sein, das weißt du ganz genau«, sagte Julia.
Ein kalter Zorn hüllte sie ein wie ein vertrauter alter Mantel.
»Rupert kennt seine Pflichten. Er hat sie immer gekannt. Und er ist kein Feigling!«
Harald lachte höhnisch. »Rupert war immer ein Feigling.
In seinem Zimmer muss heute noch ein Nachtlicht brennen, damit er schlafen kann.«
Julia wandte sich wortlos ab und stieg die Stufen des Thronpodests hinunter. Harald eilte ihr nach.
»Julia! Wohin gehst du?«
»Ich muss Rupert sehen. Ich muss mit ihm reden.«
Harald holte sie am Fuß des Podests ein und packte sie am Arm. Sie riss sich los und umklammerte den Schwertgriff.
»Lass mich in Frieden, Harald!«
»Nein, Julia!«, sagte er mit großer Bestimmtheit. »Dafür ist es jetzt zu spät. Du hast deine Wahl getroffen und kannst sie nicht mehr rückgängig machen.«
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