Sein Lächeln verflog, und nur die Bitterkeit blieb zurück. Er beobachtete wortlos, wie Julia mit einer vertrauten Geste Haralds Arm tätschelte. Harald flüsterte ihr etwas ins Ohr, das sie zum Lachen reizte. Dann schauten beide instinktiv zum Eingang und entdeckten Rupert, der sie beobachtete.
Julia zuckte bei seinem ruhigen Blick zusammen und starrte trotzig zurück. Harald lächelte und verneigte sich höflich.
Rupert drehte den Kopf zur Seite. Er fühlte sich müde, so unendlich müde. Einen Moment lang kämpfte er gegen den übermächtigen Wunsch an, einfach in sein Zimmer zurückzugehen, sich ins Bett zu legen und zu schlafen, schlafen, schlafen, bis alles vorbei war und niemand mehr Forderungen an ihn stellte. Der Moment verging, aber die Müdigkeit blieb.
Rupert seufzte unhörbar. Noch war ihm keine Ruhe gegönnt.
»Sehen Sie sich das an!«, sagte der Champion angewidert und deutete mit dem Kinn auf die Höflinge. »Die lange Nacht hat die Burgtore erreicht, und die feinen Damen und Herren streiten und zetern wie eine Schar kleiner Kinder im Sandkasten. Als Nächstes werden sie sich anspucken und an den Haaren zerren.«
Rupert musste unwillkürlich lachen. »Wissen Sie, Sir Champion, ich glaubte anfangs wirklich, der Große Zauberer könnte einige unserer Probleme lösen… Ich hätte es besser wissen müssen.«
Die Miene des Champions wurde düster. »Ich hatte Sie gewarnt, Sire. Ich traue dem Großen Zauberer nicht weiter, als ich ein nasses Kamel werfen könnte.«
»Weshalb haben Sie dann Ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um mich auf einer Reise zu begleiten, deren einziger Zweck darin bestand, den Zauberer zur Rückkehr zu überreden?«
»Weil der König es mir befahl«, erklärte der Champion.
»Deshalb.«
»Oh, Mann!« Rupert schüttelte den Kopf. »Ich denke, wir bereiten dem Geschrei jetzt ein Ende, damit endlich etwas vorangeht. Wenn die so weitermachen, verliert der Große Zauberer noch die Geduld, und wir stehen plötzlich vor einem Thronsaal voll verdutzt dreinblickender Kröten!«
»Er wird es nicht wagen, seine Magie gegen den Hof anzuwenden!«
»Da wäre ich nur halb so sicher«, meinte Rupert. »Der Große Zauberer besitzt den gesunden Menschenverstand und den Selbsterhaltungstrieb eines depressiven Lemmings.«
Er betrat den Saal und fand sich im Nu von den blind umherlaufenden Höflingen eingeschlossen. Der Lärm war ohrenbetäubend und das Gedränge so dicht, dass es für den Prinzen kaum ein Durchkommen gab. Er erspähte eine Lücke in der Menge, aber im nächsten Moment blockierte ein Hofschranze den Weg. Rupert versuchte sich an ihm vorbeizuschlängeln, doch der Mann schoss ihm einen gehässigen Blick zu und wich keinen Schritt zur Seite. Der Prinz packte den Höfling an der Schulter, drehte ihn herum, holte ihn mit einem Fausthieb von den Beinen und stieg über ihn hinweg.
Die am nächsten stehenden Lords und Ladies wollten empört protestieren, aber als sie die Miene des Prinzen sahen, machten sie hastig eine Gasse frei. Rupert schritt ungehindert auf den Thron zu, und das Stimmengewirr erstarb, als eine Gruppe nach der anderen die grimmige, blutverkrustete Gestalt in ihrer Mitte bemerkte. Schweigend starrten sie ihn an.
Vor den Stufen des Throns blieb der Prinz schließlich stehen. Der König und der Zauberer stritten weiter, zu vertieft in ihren Disput, um Ruperts Anwesenheit oder die plötzliche Stille zu bemerken. Rupert erhaschte einen Blick seines Bruders. Harald trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, und Sorgenfalten auf der Stirn beeinträchtigten seinen glatten, selbstgefälligen Gesichtsausdruck. Die Zeit im Dunkelwald hatte Rupert verändert, und zum ersten Mal spürte Harald eine leise Furcht, die ihm ein Kribbeln im Nacken verursachte. Der blutverschmierte Fremde mit den kalten Augen hatte nichts mit dem stillen, nachgiebigen jüngeren Bruder gemeinsam, den er so viele Jahre lang unterdrückt hatte.
Harald starrte zu Boden, weil er Ruperts Blick nicht länger ertragen konnte. Ohne zu wissen warum, hatte Harald plötzlich Angst. Der Tod schien Rupert anzuhaften wie ein Leichentuch – fast, als habe er einen Hauch der endlosen Nacht mit in den hell erleuchteten Thronsaal gebracht. Ein Frösteln überkam Harald, und er merkte, dass es sich nicht unterdrücken ließ. Er versuchte sich auf das Streitgespräch zwischen seinem Vater und dem Zauberer zu konzentrieren und achtete nicht auf den kalten Schweiß, der ihm auf die Stirn trat.
»Wir können uns nicht ewig hinter diesen Mauern verkriechen!«, schrie der König. »Wenn wir die Dämonen nicht angreifen, werden sie die Burg bestürmen.«
»Du bist entweder blind oder verrückt!«, knurrte der Große Zauberer. »Du redest, als würde das Waldreich immer noch vom Dunkelwald belagert. Gewöhn dich an den Gedanken, Johann – das Waldreich gibt es nicht mehr! Draußen findest du nichts außer der langen Nacht. Jenseits dieser Mauern herrscht völlige Finsternis, die nur von Dämonen durchstreift wird. Von Dämonenscharen, um genau zu sein! Jedes Heer, das du ihnen entgegenschickst, wird allein durch ihre Überzahl vernichtet. Auf einen Soldaten kommen tausend dieser Kreaturen. Jeder, der die Burg verlässt, ist zum Tod verurteilt.«
»Und was rätst du uns?«, fragte der König mit gepresster Stimme. »Dass wir in unserem kleinen Gefängnis ausharren, bis die Mächte der Finsternis noch stärker werden? Bis der Dämonenfürst uns persönlich holt? Ich habe bereits jetzt nicht mehr genügend Männer, um die Burgmauern zu bewachen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Dämonen über die Wälle klettern und uns alle niedermetzeln.«
»Ich brauche Zeit«, erklärte der Zauberer. »Es gibt Bannformeln, die gegen die Dämonen helfen müssten, aber es dauert eine Weile, sie vorzubereiten. Du wirst es doch schaffen, die Finsternis noch ein wenig länger abzuwehren!«
»Womit denn?«, fuhr der König auf. Rote Flecken zeigten sich auf seinen Wangen. »Die Männer sterben mir weg. Es fehlt uns an Lebensmitteln, Wasser, Feuerholz… Ich bin nicht sicher, ob ich die Dämonen zurückwerfen könnte, wenn sie in diesem Moment einen Sturmangriff wagten. Nun tu doch endlich etwas, verdammt noch mal!
Du bist der Große Zauberer! Tu etwas oder wir sind alle dem Tod geweiht!«
»Immer ich, nicht wahr? Immer soll ich mit meiner Magie alles richten. Ist dir jemals der Gedanke gekommen, dass ich es irgendwann satt haben könnte, die Dinge, die du verbockt hast, wieder in Ordnung zu bringen? Kannst du nicht ein einziges Mal selbst die Verantwortung für deine Schnitzer übernehmen? Du hast dich nicht die Spur geändert, Johann.
Du sitzt auf deinem blöden Thron und stammelst und zauderst, bis dir alles aus dem Ruder läuft, und dann soll ich mit einem Fingerschnippen das Unheil von dir abwenden. Egal, ob es mir in den Kram passt oder nicht. Egal, ob ich dabei mein Leben riskiere oder nicht. Nein, mein Lieber, diesmal wird das gemacht, was ich sage! Ich habe keine Lust, meinen Kopf auf den Richtblock zu legen, nur weil du nicht abwarten kannst!«
»Ich bin dein König! Ich befehle dir…«
»Steck dir deine Befehle…«
»RUHE!« Ruperts plötzlicher Ausbruch übertönte die Stimmen der beiden Streithähne und brachte sie jäh zum Schweigen. Stille breitete sich im Saal aus. Ein Höfling in Ruperts Nähe öffnete den Mund zum Protest und starrte gleich darauf entsetzt und fasziniert auf die Schwertspitze, die sich sachte gegen seinen Bauch drückte.
»Ein Wort«, sagte Rupert ruhig, »und ich schlitze Ihnen die Eingeweide auf. Das gilt übrigens für alle Anwesenden.«
Die Höflinge sahen seine grimmige Miene und das blutverschmierte Schwert in seiner Hand und gelangten zu dem Schluss, dass er seine Drohung ernst meinen könnte. Rupert ließ seine Blicke über die entgeisterten Gesichter wandern und lächelte schwach.
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