Aber er musste vorsichtig sein. Seit er in das Labyrinth der verborgenen Tunnel und Entlüftungsrohre geflohen war (Wie lange lag das zurück? Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren.), hatte er Angst davor, in die Burg selbst zurückzukehren.
Selbst als der Hunger und Durst ihn schließlich dazu zwangen, seine Tunnel eine Weile zu verlassen, lebte er in der ständigen Furcht, von den Männern des Königs aufgespürt und gefasst zu werden. Er hegte keinen Zweifel daran, dass die Wachen ihn auf der Stelle töten würden. Er selbst hätte den Befehl dazu erteilt. Es war nur logisch. Und so verließ er das Dunkel nur, wenn es unbedingt sein musste, schlüpfte durch geheime Wandtüren und verborgene Entlüftungsschächte, wenn er sicher sein konnte, dass niemand ihn bemerkte. Er stahl Brot, Fleisch und Wein, nie so viel, dass es auffiel, und nie genug, um den Hunger zu stillen, der in seinen Eingeweiden nagte, wann immer er wach war.
Darius starrte in den goldenen Schimmer, der vor ihm lag, und kämpfte gegen den Impuls an, seine Tunnel zu verlassen und die Entdeckung zu riskieren, nur um wieder im Licht leben zu können. Die ständige Dunkelheit der verschlungenen Korridore lastete auf ihm und höhlte ihn unbarmherzig aus wie Wasser, das unentwegt auf einen Stein tropfte. Darius fauchte lautlos und schüttelte störrisch den Kopf. Noch war die Zeit nicht reif. Er hatte geschworen, in seinem Labyrinth zu bleiben, bis ihn sein Dunkler Herr und Meister rief und ihm Macht über seine Feinde verlieh. Wahre Macht. Zaubermacht. Er spürte, wie sie in ihm brannte und stetig stärker wurde. Der Dunkle Fürst hatte seine lang verschmähten Talente erkannt und zum Leben erweckt. Darius lächelte. Bald würde seine Macht brennen wie ein Leuchtfeuer, und dann würde er das Dunkel verlassen und Rache üben. Bis dahin wollte er warten, denn auch wenn er sich danach sehnte, wieder im Licht zu wandeln, der Wunsch nach Rache war größer. Erheblich größer.
Darius trat in das goldene Licht und stellte sich auf die Zehenspitzen, um durch die Öffnung zu spähen. Die Helligkeit tat seinen Augen weh, und Tränen liefen ihm über die schmutzverklebten, stoppeligen Wangen, aber er konnte die Blicke nicht abwenden. Nach einer Weile schmerzten ihm die Knöchel. Er verdrängte das unangenehme Ziehen so lange wie möglich, aber dann musste er die Füße ausschütteln und sich von dem tröstlichen goldenen Schein entfernen. Er blieb nachdenklich stehen, wog die Für und Wider ab und zog aus dem Ärmel den letzten kostbaren Kerzenstummel. Mit dem Dolchgriff schlug er Funken aus dem Metallgitter, bis der Kerzendocht endlich aufglomm. Im nächsten Moment umfing ihn der Tunnel, als habe er nur auf ein wenig Licht gewartet, um seine Existenz zu manifestieren. Darius zog erschrocken den Kopf ein, als er merkte, dass die Decke nur wenige Zentimeter über seinem Scheitel verlief. Auch die Wände rückten näher und machten ihm bewusst, wie entsetzlich eng ihn der Tunnel umschloss. Er stolperte hierhin und dorthin, und überall starrte ihm, kaum eine Handbreit entfernt, das alte Mauerwerk höhnisch entgegen. Kalter Schweiß lief ihm von der Stirn, und er stöhnte, wimmerte und fuchtelte ziellos mit den Händen, während ihn blanke Panik erfasste. Er drehte sich im Kreis, immer wieder, und konnte nicht stillstehen. Er war in den steinernen Eingeweiden der Burg lebendig begraben, Meilen entfernt von Licht, Luft und Freiheit. Plötzlich begann er laut zu schreien und mit den Fäusten gegen die Wand zu hämmern, bis er erschöpft zusammenbrach und schluchzend in den Schlick fiel, der den Tunnelboden bedeckte. Eine Zeit lang lag er da, blind vor Angst. Dann verklang sein Schluchzen allmählich, während die Panik nachließ und nichts außer einer schlichten, überwältigenden Müdigkeit zurückblieb. Er setzte sich auf und wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Er spürte etwas in der geschlossenen Faust, und als er die Finger öffnete, sah er, dass er den Kerzenstummel zu einer formlosen Wachsmasse zerdrückt hatte. Er schniefte noch einmal und warf das Wachs weg.
Er rappelte sich mühsam auf, fand den Dolch, den er fallen gelassen hatte, und kehrte zurück in das goldene Licht, das durch die Gitteröffnung einfiel. Er rieb an dem stinkenden Schlick herum, der sich in seine Kleidung gesogen hatte, und wünschte sich flüchtig, er hätte einen Spiegel zur Hand. Er fragte sich oft, wie er jetzt aussehen mochte. Dass er Gewicht verloren hatte, merkte er daran, wie ihn die Kleidung umschlotterte, aber er spürte, dass er sich auch sonst verändert hatte. Er fror ständig und ermüdete schnell, doch das störte ihn kaum noch. Er zuckte die Achseln und schob den Gedanken beiseite. Es war nicht wichtig. Nichts war mehr wichtig, bis auf das Gesicht, das stets vor ihm schwebte, selbst in den tiefsten, dunkelsten Gängen. Haralds Gesicht. Das kühle Lächeln auf den Zügen des Prinzen, als er Darius an seine Feinde verriet.
Tut mir Leid, Darius. Heutzutage kann man keinem Menschen mehr trauen.
Darius kauerte in dem goldenen Lichtkreis nieder. Zu beiden Seiten sah er die schmutz- und rußverschmierten Wände, an denen das Wasser in dünnen Rinnsalen zu Boden perlte und dort einen glitschigen Film bildete. Das Jahrhunderte alte Mauerwerk, das ihn umgab, wies Risse und Unebenheiten auf, und die Entwässerungskanäle, die das Kondenswasser und andere Ablagerungen ins Freie leiten sollten, waren hoffnungslos verstopft. Die Burg wurde alt und marode. So wie er. Er runzelte die Stirn und zählte mit leiser Stimme die Dinge auf, die er sich vorgenommen hatte, die Neuerungen.
Er hatte so viele Pläne gehabt… doch die konnte er nun vergessen.
Seine Rebellion war gescheitert. Vorbei. Unterdrückt, bevor sie richtig begonnen hatte. Er lachte leise, und es dauerte lange, bis der hässliche Laut in wispernden Echos erstarb.
Was ihm blieb, war seine Rache. Alle jene, die ihn belogen und ausgetrickst und in die Dunkelheit getrieben hatten, sollten mit ihrem Blut dafür bezahlen, was sie ihm angetan hatten. Das hatte ihm der Dunkle Fürst versprochen.
Darius umklammerte den Dolch noch fester und bewunderte die goldenen Lichtreflexe auf der schmalen Stahlklinge.
Nur nahe dem Heft wurde sie von braunen Flecken getrockneten Bluts verunziert. Darius runzelte die Stirn. Schade um Cecelia. Aber zweifellos war er ohne sie besser dran; sie hatte ihm nur im Weg gestanden und ihn aufgehalten. Hatte stets auf ihm herumgehackt. Und dennoch vermisste er sie immer noch. Mit Cecelia hatte er reden können, auch wenn sie nur die Hälfte davon verstand, was er sagte. Schade um Cecelia.
Aber sie hätte ihn nicht aufhalten sollen.
Darius erstarrte plötzlich, als er nicht weit entfernt das Auf und Ab von Stimmen hörte. Sie schienen sich zu nähern, weil sie stetig lauter wurden, klangen aber sonderbar verschwommen, sodass er nicht verstehen konnte, was gesprochen wurde. Der Minister presste sich erschrocken gegen die Wand, als sie unvermittelt wie Donner durch den engen Tunnel dröhnten und dann verstummten, mitten im Wort abgeschnitten. Darius lächelte unbehaglich und entspannte sich wieder.
Der Schall wanderte auf seltsamen Wegen durch die Entlüftungsschächte und hallte endlos wider, bis er nur noch ein Wispern war, aber hin und wieder drangen durch eine Laune der Akustik Stimmen und Bruchstücke von Unterhaltungen aus der Burg so deutlich an sein Ohr, als befände er sich im gleichen Raum wie die Sprechenden. Darius wusste um das Schicksal seiner Mitverschwörer. Mehr als einmal war er versucht gewesen, die Tunnel zu verlassen und den König zu bitten, dass er ebenfalls ins Exil gehen durfte, aber sein Stolz hinderte ihn daran. Er musste Rache üben, sonst wäre sein langes Umherirren im Dunkeln umsonst gewesen.
Er wandte sich von der Gitteröffnung ab und wanderte tiefer in den Tunnel hinein, fort von dem goldenen Lichtschein.
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