Der Tunnel war früher zu Ende, als er erwartet hatte. Er packte die Leichen vor sich, zerrte sie auseinander, legte einen Pfad frei. Oft gerieten ihm Gliedmaßen als Hindernisse in den Weg, und er mußte daran ziehen und zerren, sie abbrechen und zur Seite legen, sie aus dem Weg schaffen. Die Arme und Beine brachen sauber ab, Holzstücken gleich. Er versuchte, sie sich als genau das vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Es waren Menschen, sein Volk. Manchmal mußte er mit seiner übermenschlichen Kraft Brustkörbe einschlagen, um den nötigen Platz zu schaffen. Die reglosen Toten widersetzten sich ihm störrisch, und er entwickelte Widerwillen gegen sie. Wußten sie nicht, daß er es für sie tat? Er schlug mit den Fäusten zu und freute sich aus mehr als einem Grund, daß die Hände taub waren.
Er spürte Hazel hinter sich und hörte die abgehackten, brechenden Geräusche ihres langsamen Vorrückens, aber als er ihren Namen krächzte, antwortete sie nicht. Vermutlich setzte die Kälte ihrer Stimme ebenso zu wie seiner. Ohnehin konnte er sich nicht umdrehen und nachsehen, ob irgendwas nicht stimmte. Der Platz reichte nicht. Also machte er weiter, näherte sich der Tür.
Es war inzwischen sehr dunkel. Der letzte Rest des Lichtes, das die Haupthöhle und das neu eingeschaltete Kraftfeld spendeten, war schon lange zurückgeblieben. Überall ringsherum vernahm Owen Geräusche von Bewegung, knarrende Geräusche, während sich die Gewichte im Leichenberg aufgrund seiner Aktionen verlagerten. Es schien fast, als rührten sich die Toten, aufgestört von der Anwesenheit Lebender mitten unter ihnen. Owen war dankbar für die Dunkelheit. Er hegte die lautlose Schreckensvorstellung, eines der toten Gesichter könnte die Augen öffnen und sich zu ihm umwenden, wenn er vorüberkroch, und er glaubte, er könnte recht wohl den Verstand verlieren, falls dergleichen wirklich geschah. Dinge existierten, die anzublicken kein Mensch ertragen konnte, ohne den Verstand zu verlieren. Und so kämpfte sich Owen voran; das Herz hämmerte ihm in der Brust, der Atem ging rauh und ungleichmäßig, und er rechnete fast damit, daß jeden Augenblick eine tote Hand aus der Dunkelheit heraus nach ihm griff und ihn an Arm oder Bein packte.
Angst vor der Enge machte sich langsam in ihm breit, während das Gewicht all der Leichen immer schwerer auf ihm lastete. Erste Zweifel über die eingeschlagene Richtung und die Lage der Geheimtür kamen ihm. In der völligen Dunkelheit konnte er eine Richtung nicht von der anderen unterscheiden.
Soweit er wußte, konnten sie sich genausogut in einem weiten Kreis bewegen, sich hoffnungslos im Totenreich verirrt haben.
Allmählich fand er, daß er schon viel zu lange kroch, ohne irgendwohin zu gelangen. Daß er schon längst an der Tür hätte sein müssen. Daß er hier drin für immer in der Falle saß, in seiner ganz persönlichen Hölle. Aber er war nicht allein. Hazel begleitete ihn. Und allein dieses Wissen gab ihm die nötige Kraft, den Weg fortzusetzen.
Gelegentlich verhakten sich gekrümmte Finger in seiner Kleidung, so daß er abrupt anhalten, blind hinter sich herumtasten und die metallharten Finger abbrechen mußte, ehe er seinen Weg fortsetzen konnte. Obwohl er es nicht sehen konnte, verrieten ihm die Finger, daß die Leichen vor ihm nicht immer vollständig waren. Sein Volk war im Kampf gegen die Invasoren gestorben, in den meisten Fällen eines grausamen Todes.
Die Invasion und die Zerstörung von Virimonde waren den Bewohnern des Planeten ins nachgiebige Fleisch geschnitten worden, und hier lagen die Zeichen aufbewahrt, für jedermann lesbar. Wut brannte in Owen für das, was man diesen Menschen angetan hatte, und diese Wut half ihm, sich zu wärmen, während er sich weiter vorankämpfte.
Endlich erreichte er die andere Seite und stieß mit den Händen an unnachgiebiges Metall. Die Kälte hatte sein Denken verlangsamt, und er dachte eine Zeitlang träge über die Situation nach, ehe ihm klar wurde, daß er am Ziel war. Er schrie Oz an, er solle die Geheimtür öffnen, und eine Platte öffnete sich in der Wand und glitt lautlos zur Seite. Helles Licht fiel heraus und blendete Owens froststarr offenstehende Augen. Er stieß vor Schmerz und Triumph einen heiseren Schrei aus, den Laut einer heiseren Aaskrähe, die man beim Festschmaus auf dem Schlachtfeld gestört hatte. Er zog sich aus dem Leichenberg hinaus in den Gang hinter der Öffnung und brach dort zusammen; Dampf stieg ihm in dicken Schwaden aus dem Leib.
Kalte Luft strömte durch die Öffnung und verdickte sich in der warmen Luft des Korridors zu Nebel. Owen lag hilflos auf dem Boden, und die entsetzliche Kälte spannte und lockerte sich in ihm wie herumratschende Rasierklingen. Die geschürte Hitze des Zorns gloste jedoch immer noch tief in ihm und brannte die Kälte Zentimeter um Zentimeter weg, bis das Leben in den Körper zurückkehrte und er sich wieder bewegen konnte. Die Finger rührten sich als erste, beugten und streckten sich und erzeugten dabei Knacklaute wie Zweige, die zertreten wurden. Der Körper zog sich mehrfach zusammen und entspannte sich wieder in langsamer Folge, während Wärme in kältetote Muskeln zurückfloß. Die Schmerzen waren schlimm, aber Owen begrüßte sie. Sie bedeuteten, daß er wieder zum Leben erwachte, nachdem er so lange zwischen den Toten geweilt hatte.
Nach einer Weile zwang er sich, sich aufzurappeln und zu Hazel umzudrehen, und erst in diesem Augenblick wurde ihm klar, daß sie ihm nicht aus dem Ort der Toten heraus gefolgt war. Sie war nach wie vor dort drin. Er humpelte mit laut knackenden Knien zur Öffnung und rief Hazels Namen. Sie antwortete nicht. Owen schlug mit den Händen nach dem gefrierenden Nebel und bemühte sich, in die darunterliegende Dunkelheit zu blicken, aber selbst seine Augen hatten ihre Grenzen. Er rief erneut nach Hazel, aber Kälte und Dunkelheit verschluckten seine Stimme sofort. Er blickte ins eigene Innere, suchte nach der geistigen Verbindung zu Hazel, aber sie entzog sich ihm, geschwächt durch lange Vernachlässigung. Er hatte sie in der Kälte und der Dunkelheit zurückgelassen, im Reich der Toten. Er mußte dorthin zurückkehren und sie retten.
Etwas in ihm protestierte augenblicklich. Er konnte nicht wieder in die Kälte. Er brachte es einfach nicht fertig. Die Kälte und die Dunkelheit und das Grauen all dessen hatten ihn beinahe vernichtet. Es wäre Wahnsinn, ihnen eine zweite Chance zu geben. Aber noch während er diesen Gedanken nachhing, wurde ihm klar, daß er wieder hineingehen würde.
Er mußte einfach. Hazel brauchte ihn. Ihm tat von Kopf bis Fuß immer noch alles weh, aber es würde vorübergehen. Er fürchtete sich, aber das spielte keine Rolle. Er hatte sich schon früher gefürchtet. Seit langem war Hazel D’Ark das einzige, was ihm noch etwas bedeutete.
Und so atmete er in der eisigen Luft tief ein und schob Kopf und Schultern zurück in die Dunkelheit. Die bittere Kälte schloß sich um ihn wie die Umarmung eines altvertrauten Feindes, aber er zwang sich, sie zu ignorieren, und dachte nur an Hazel. Er überwand sich, in die Dunkelheit zurückzukehren, und auf einmal blieb ihm das Herz stehen, als sich eine kalte Hand um sein Handgelenk schloß. Die Luft entrang sich ihm in einem schmerzhaften Keuchen, und die Vorstellungskraft beschwor für ihn das Bild herauf, wie die Toten ringsherum allmählich lebendig wurden, ihn festhielten, ihn zwangen, in ihrer Eishölle zu bleiben, bis er tot war wie sie. Und dann setzten Herzschlag und Atem wieder ein, als er feststellte, daß es Hazels Hand war, die ihn gepackt hatte.
Er packte sie seinerseits ums Handgelenk, versuchte mit krächzender Stimme etwas Beruhigendes zu sagen, und kämpfte wie rasend darum, sie aus der Kälte zu ziehen. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis er wieder den Korridor erreichte und Hazel ins Licht und die Wärme hereinzog. Sie kam in einer Folge abrupter Bewegungen zum Vorschein, ohne ihm helfen zu können. Sie war steifgefroren, und als sie endlich auf den Korridorboden fiel, klang es wie der Sturz eines Baumstamms.
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