Obwohl der Weltenbaum lichterloh brannte, Laub und schwarze Äste durch die Luft flogen und der aus abgebrochenen Zweigen austretende klebrige Baumsaft an verschiedenen Stellen in Strömen herausfloss, schienen Hekates Kräfte ungebrochen. Ernüchterung und Enttäuschung überfielen Dee. Alle seine Recherchen hatten ergeben, dass Hekate den Baum zum Leben erweckt hatte, indem sie ihm etwas von ihrer eigenen Lebenskraft gab. Dafür erneuerte er im Gegenzug ihre Kräfte, während er wuchs. Den Baum niederzubrennen, war Dees Idee gewesen. Er hatte angenommen, dass ihre Kräfte nachlassen würden, wenn ihr Baum verbrannte. Doch das Gegenteil war der Fall: Dass der Baum in Brand gesteckt worden war, hatte die Erstgewesene nur in maßlose Wut versetzt, und in ihrem Zorn hatte sie umso größere Kräfte entwickelt. Als Dee sah, wie Hekates Lippen sich zu etwas verzogen, das ein Lächeln hätte sein können, und wie die Morrigan stolperte und zurückwich, dämmerte ihm, dass die Göttin mit den drei Gesichtern in ihrem eigenen Schattenreich einfach zu mächtig für sie war.
Und in diesem Moment wusste Dee, dass er handeln musste.
Gedeckt von Bäumen und hohem Gras, umrundete er den Stamm des gewaltigen Baumes. Er musste sich niederkauern und verstecken, als ein Torc Allta in Ebergestalt direkt vor ihm durchs Unterholz brach. Ihm auf den Fersen waren mindestens ein Dutzend Katzen- und doppelt so viele Vogelmenschen.
Dee kam auf der Seite des Weltenbaums aus dem Unterholz, die der Stelle, an der Hekate und die Morrigan kämpften, genau gegenüberlag. Er sah, dass sich bei der Gruppe um Flamel rechts von ihm irgendetwas tat. Vögel und Katzen stoben in alle Richtungen davon... Und da erst fiel Dee auf, dass es gewöhnliche Vögel und normale Straßenkatzen waren, die da flohen, und keine halbmenschlichen Kreaturen. Die Verwandlungszauber von Bastet und der Morrigan verloren ihre Wirkung. War Hekate so mächtig? Er musste dem jetzt ein Ende setzen.
Dr. John Dee hob das Schwert. Schmutzig blaues Licht schlängelte sich die kurze Klinge entlang, und einen Augenblick lang summte die uralte Waffe, als ein unsichtbarer Wind über die Schneide strich. Die in den Griff eingeritzte Schlange erwachte zischend zum Leben. Dee umklammerte den Griff seines Schwerts mit beiden Händen, legte die Klingenspitze an die raue Rinde des uralten Baumes... und drückte.
Excalibur versank bis zum Heft im Holz, ohne dass Dee sich überhaupt anstrengen musste. Zunächst geschah nichts. Dann begann Yggdrasill, der Weltenbaum, zu stöhnen. Wie bei einem Tier, das verletzt wurde, begann es mit einem tiefen Grollen, das rasch in einen hohen qualvollen Ton überging. Um die Stelle, an der der Schwertgriff aus dem Baum herausragte, bildete sich ein blauer Fleck. Etwas lief wie Tinte am Baum hinunter und sickerte in den Boden, dann strömte öliges blaues Licht in die Adern und Ringe des Holzes. Yggdrasills Schreie wurden immer höher, bis sie für menschliche Ohren nicht mehr zu hören waren. Die letzten Torc Allta stürzten zu Boden, zuckend vor Schmerzen, und hielten sich die Ohren zu.
Das blaue, ölig wirkende Licht wanderte schnell um den Baum herum und bedeckte alles mit einer dünnen Schicht glitzernder Eiskristalle. Blau-schwarze und rot-grüne Regenbogen standen plötzlich in der Luft.
Die Eisschicht schoss am Stamm hinauf und an den Ästen entlang und verwandelte alles, was mit ihr in Berührung kam, in glitzernde Kristalle. Selbst das Feuer war nicht dagegen gefeit. Flammen froren ein, blieben als kunstvolle Eisskulpturen kurz in der Luft stehen, bevor sie feine Risse bekamen und zu glitzerndem Staub zerbarsten. Wenn die blaue Schicht Blätter berührte, wurden sie hart und brachen von den Ästen. Sie schwebten nicht sacht zu Boden; sie fielen und zerbrachen mit leisem Klirren, wohingegen die Äste als kompakte Eisblöcke vom Stamm gerissen wurden und auf der Erde zerschellten. Dee warf sich zur Seite, um nicht von einem meterlangen gefrorenen Zweig aufgespießt zu werden. Er packte Excaliburs Griff, zog die Klinge aus dem Stamm und lief in Deckung.
Der Weltenbaum starb. Riesige Rindenstücke brachen vom Stamm, als wäre der Baum ein zerfallender Eisberg, und krachten auf den Boden. Hekates schönes Schattenreich war in Windeseile übersät von rasiermesserscharfen Eissplittern.
Immer auf der Hut vor herunterfallenden Ästen, rannte Dee in gebotenem Abstand um den Baum herum. Er musste einfach wissen, was mit Hekate geschah.
Auch die Göttin mit den drei Gesichtern starb.
Hekate stand reglos vor ihrem zerbrechenden Baum und innerhalb weniger Herzschläge veränderte sich ihr Gesicht immer wieder von dem jungen Mädchen über die reife Frau zur todgeweihten Greisin. Das ging so schnell, dass der Rest ihres Körpers keine Zeit hatte, sich anzupassen, und die Phasen sich für den Beobachter vermischten: Da waren junge Augen in einem alten Gesicht; der Kopf eines Mädchens auf dem Körper einer Frau; der Körper einer Frau mit Kinderarmen. Hekates sich ständig veränderndes Gewand hingegen hatte alle Farbe verloren und war genauso schwarz wie ihre Haut.
Dee stellte sich schweigend neben die Morrigan. Dann kam auch noch Bastet dazu, und zusammen verfolgten sie die letzten Augenblick von Hekate und dem Weltenbaum.
Der Baum war inzwischen fast ganz von einer blauen Eisschicht überzogen. Gefrorene Wurzeln hatten den Boden aufgebrochen und die Symmetrie der Anlage zerstört. In dem gewaltigen Stamm klafften Löcher, die den Blick auf die runden Räume im Inneren freigaben: Sie alle waren im blauen Eis erstarrt und unbewohnbar geworden.
Hekates rasende Veränderung verlangsamte sich. Es dauerte länger, bis die Wechsel sich vollzogen, da auch bei ihr nun kaltes Blau von unten an ihrem Körper emporkroch, sich ausbreitete, die Haut erstarren ließ und mit Eiskristallen überzog.
Die Morrigan schaute kurz auf das Schwert in Dees Hand, wandte den Blick aber sofort wieder ab. »Selbst nach all den Jahren in unseren Diensten schaffst du es immer noch, uns zu überraschen, Dr. Dee«, bemerkte sie leise. »Ich wusste nicht, dass du das Eisschwert besitzt.«
»Ich bin froh, dass ich es mitgebracht habe«, erwiderte Dee, ohne direkt auf die angedeutete Frage einzugehen. »Hekate war wohl doch mächtiger, als wir annahmen. Wenigstens hat sich meine Vermutung – dass ihre Kraft mit der des Baumes im Zusammenhang steht – bestätigt.«
Ein einziger Eisblock war alles, was vom Weltenbaum übrig geblieben war. Auch Hekate war jetzt vollständig mit einer blauen Eisschicht überzogen, nur ihre buttergelben Augen waren noch voller Leben und glänzten. Die Spitze des Baumes begann zu schmelzen, schmutziges Wasser lief am Stamm hinunter und grub tiefe Rillen ins Eis.
»Als ich merkte, dass sie deinen Zauber außer Kraft setzen kann, wusste ich, dass ich eingreifen muss«, sagte Dee. »Ich habe gesehen, wie die Katzen und Vögel wieder ihre natürliche Gestalt annahmen.«
»Das hatte nichts mit Hekate zu tun«, rief Bastet. Sie sprach mit starkem Akzent und ihre Stimme klang wie die einer Löwin.
Die Morrigan und Dee wandten sich der Katzengöttin zu. Bastet hob eine Pfote und zeigte über die Wiese. »Das Mädchen war’s. Jemand hat durch sie gesprochen, jemand, der meine wahren Namen kennt, jemand, der die Aura des Mädchens benutzte, um reine Energie entstehen zu lassen. Das war es, was unsere Verwandlungszauber aufgehoben hat.«
Dee schaute hinüber zu der Eiche, wo zuvor Flamel, Scatty und die Zwillinge gestanden hatten. Jetzt war keine Spur mehr von ihnen zu sehen. Dee wollte gerade die letzten Katzen und Vögel auf die Suche nach ihnen schicken, als er Senuhet daherwanken sah. Der alte Mann war von oben bis unten mit Schmutz und Blut bespritzt – wobei das Blut nicht von ihm zu stammen schien -, und er hatte nur noch eines seiner gebogenen Bronzeschwerter bei sich. Die Klinge war abgebrochen.
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