Perenelle schaute den Gang hinauf und hinunter. In der Ferne hörte sie Geräusche, Schritte auf Steinboden, und sie wusste, dass weitere Wachen im Anmarsch waren. Sie konnte entweder weiterlaufen und sich verstecken oder sich den Wachen stellen. Etwas von ihrer Kraft war zurückgekehrt. Aber das half Nicholas und den Zwillingen nicht.
Perenelle schaute noch einmal in die Pfütze. Sie sah Hekate, die dem gemeinsamen Angriff der Vögel und Katzen standhielt, und hinter ihr Dee. Das Schwert in seiner Hand glühte giftig blau. Im Hintergrund brannte der Weltenbaum. Rote und grüne Flammen loderten hoch aus ihm auf.
Eine Möglichkeit gab es noch – einen verzweifelten, gefährlichen Versuch konnte sie wagen. Falls er gelang, wäre sie anschließend völlig entkräftet und wehrlos. Dees Kreaturen bräuchten sie nur aufzuheben und wegzutragen.
Perenelle überlegte es sich nicht zweimal.
Über die ölige Pfütze gebeugt, legte sie die rechte Hand mit der Handfläche nach oben in die linke und konzentrierte sich. In ihre Aura kam Bewegung, wie Nebelschwaden strich sie an ihren Armen hinunter und sammelte sich in ihrer Hand, floss durch die eingekerbten feinen Linien in ihrer Haut und ließ einen winzigen, silbrig weißen Funken aufblitzen. Er verdichtete sich zu einer Kugel, wuchs und drehte sich, und der Aura-Nebel floss schneller die Arme herunter. Es dauerte nur wenige Herzschläge lang, dann hatte die Kugel die Größe eines Eis erreicht. Perenelle drehte die Hand und warf den Ball aus reiner Aura-Energie ins Wasser der Pfütze. Dazu sprach sie drei Worte:
»Sophie, wach auf!«
Sophie, wach auf!« Sophie Newman schlug die Augen auf. Und schloss sie gleich wieder. Sie presste die Hände auf die Ohren. Alles war so hell, die Farben so leuchtend, der Schlachtenlärm so laut und durchdringend.
»Sophie, wach auf!«
Der Schock, als sie die Stimme noch einmal hörte, zwang sie, die Augen erneut zu öffnen und sich umzuschauen. Sie hörte Perenelle Flamel so deutlich, als stünde sie neben ihr, aber sie war nicht da. Sophie selbst saß auf dem Boden, mit dem Rücken an die raue Rinde einer alten Eiche gelehnt. Josh stand neben ihr, einen dicken Ast in beiden Händen, und wehrte verzweifelt irgendwelche grässlichen Gestalten ab.
Langsam erhob Sophie sich, wobei sie sich am Baum abstützte. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war der strenge Geruch von brennendem frischen Holz. Sie erinnerte sich noch, dass sie »Feuer!« gerufen hatte, aber der Rest waren nur noch verschwommene Bilder – ein schmaler Tunnel, Geschöpfe mit Vogel- und Katzenköpfen -, die auch Träume hätten sein können.
Als Sophies Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah sie, dass es kein Traum gewesen war.
Rings herum nichts als Vogel- und Katzenmenschen. Hunderte davon. Ein paar der Katzenköpfigen versuchten, sich im hohen Gras auf dem Bauch kriechend anzuschleichen; sie fauchten und schlugen mit den Vorderpfoten in die Luft. In der Eiche über ihr saßen Vogelmenschen, die sich durchs Geäst nach unten hangelten, bis sie sich fallen lassen konnten. Andere hüpften über den Boden und hackten mit ihren gefährlich aussehenden Schnäbeln nach Josh.
Am Rand der Wiese brannte Hekates Weltenbaum. Das Holz knisterte und knackte. Doch bereits in dem Moment, in dem es verbrannte, wuchs neues Holz nach, frisch und grün. Merkwürdige Geräusche drangen an Sophies Ohr, und ihr wurde klar, dass es der Baum war, den sie hörte. Mit ihrem neu erweckten Gehör glaubte sie zwischen den gequälten Schreien des brennenden Wesens Worte und Sätze ausmachen zu können, Liedfetzen und Gedichtverse. Sie sah Hekate, die verzweifelt versuchte, das Feuer zu löschen, sich aber gleichzeitig die Morrigan, die Vögel und Katzen vom Leib halten musste. Sophie fiel auf, dass keine Federnattern mehr in der Luft waren und nur noch sehr wenige Torc Allta bereitstanden, um ihre Herrin zu beschützen.
Nicht so weit entfernt erspähte Sophie Scattys feuerrotes Haar. Auch die Kriegerprinzessin war umringt von Dutzenden von Vögeln und Katzen. Sie schien einen komplizierten Tanz aufzuführen, ihre beiden Schwerter blitzten auf und trieben die Kreaturen kreischend zurück. Scatty versuchte, sich hinüberzukämpfen zu der Stelle, wo Nicholas Flamel bäuchlings auf dem Boden lag, festgehalten von den Klauen der entsetzlichsten Kreatur, die Sophie je gesehen hatte: Bastet, die Katzengöttin. Da sie jetzt ungeheuer scharf sah, konnte Sophie jedes Detail in Bastets Katzengesicht ausmachen, jedes feine Haar ihres Fells.
Flamel sah, dass Sophie in seine Richtung schaute. Er versuchte, tief Luft zu holen, was jedoch in seiner Lage unmöglich war. »Lauf«, flüsterte er, »lauf!«
»Sophie, ich habe nur wenige Augenblicke…« Perenelles Stimme erklang in Sophies Kopf. Der Schock brachte das Mädchen vollends zu sich. »Du brauchst nur eines zu tun: Du musst mich durch dich reden lassen...«
Josh merkte, dass seine Schwester aufstand. Sie schwankte leicht, hielt sich die Ohren zu, als sei ihr alles zu laut, und kniff die Augen zusammen. Ihre Lippen bewegten sich, als führe sie Selbstgespräche. Er schlug nach zwei Vogelmenschen, die auf ihn zustürmten. Der schwere Ast traf einen davon auf den Schnabel. Benommen stolperte er rückwärts. Der andere tänzelte weiter um Josh herum. Der merkte irgendwann, dass der Vogelmann nicht ihn im Visier hatte, sondern Sophie. Er holte aus und schlug nach ihm. Im selben Moment kam eine große, schlanke Gestalt mit dem Kopf einer Tigerkatze mit weiten Sprüngen näher. Josh versuchte, den Ast zu schwingen, doch er stand auf dem falschen Fuß, und der Katzenmensch duckte sich darunter weg. Dann machte er mit aufgerissenem Maul und ausgestreckten Krallen einen Satz auf ihn zu.
Ein bitterer Geschmack schoss in Joshs Mund, und es durchzuckte ihn die Erkenntnis, dass Sophie und er in akuter Lebensgefahr waren. Er musste zu seiner Schwester, musste sie beschützen... und wusste doch im selben Moment, dass er es nicht rechtzeitig schaffen würde. Er schloss die Augen, als die Kreatur sich auf ihn warf, spürte fast schon die Klauen, die sich in seine Brust bohrten, und hörte bereits das triumphierende Geschrei... Doch dann kam nur ein leises Schnurren. Josh öffnete die Augen, blinzelte und stellte fest, dass er ein flauschiges junges Kätzchen im Arm hielt.
Sophie! Er drehte sich um – und hielt ehrfürchtig inne.
Sophies Aura leuchtete wie reines Silber. An manchen Stellen war sie so dicht, dass sie das Sonnenlicht brach und wie eine mittelalterliche Rüstung zurückwarf. Silberne Funken knisterten in ihrem Haar und Aura-Silber sprühte von ihren Fingerspitzen.
»Sophie?«, flüsterte Josh überglücklich. Seiner Schwester ging es gut.
Langsam drehte Sophie den Kopf und sah ihn an und da traf es ihn wie ein Schlag: Sie erkannte ihn nicht. Ihm wurde übel.
Der Vogelmann, der Sophie im Visier gehabt hatte, machte einen Satz nach vorn und zielte mit dem Schnabel zwischen ihre Augen. Sie schnippte mit den Fingern. Winzige Silbertröpfchen lösten sich von ihren Fingerspitzen und trafen die Kreatur. Augenblicklich schrumpfte sie und wurde zu einer ganz gewöhnlichen Elster, die orientierungslos herumflatterte.
Sophie schritt an ihrem Bruder vorbei auf Bastet zu.
»Keinen Schritt weiter, meine Kleine«, warnte Bastet und hob die Krallenhand.
Sophie öffnete die Augen weit und lächelte, und Josh musste schockiert feststellen, dass er zum ersten Mal in seinem Leben Angst vor seiner eigenen Schwester hatte. Das war nicht seine Sophie – dieses furchteinflößende Wesen konnte nicht seine Zwillingsschwester sein.
Als sie sprach, kamen die Worte seltsam rau aus ihrem Mund. »Du hast keine Vorstellung davon, was ich dir antun kann.«
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