»Hekate ging hier durch«, sagte Nicholas und zeigte auf eine undurchdringlich scheinende Wand aus Wurzelgeflecht. »Ich habe sie aus der Kammer laufen und direkt hier durchgehen sehen.« Er trat an die Wand und streckte den Arm aus – der bis zum Ellbogen darin verschwand.
»Ich gehe zuerst«, sagte Scatty. Josh fiel auf, dass sie, obwohl sie gegen die Übermacht aus Vögeln und Katzen gekämpft hatte, keine einzige Schramme abbekommen hatte. Sie atmete nicht einmal schwer.
Scatty sprintete los und stürzte sich, die Schwerter vor der Brust gekreuzt, ohne innezuhalten in die Wurzelwand. Flamel und Josh schauten sich kurz an – und schon tauchte Scattys Kopf wieder aus dem Wurzelgeflecht auf. »Alles klar.«
»Ich mache die Nachhut«, sagte Flamel und trat zur Seite, damit Josh mit Sophie vorgehen konnte. »Alles, was uns folgt, bekommt es mit mir zu tun.«
Josh nickte nur. Noch traute er seiner Stimme nicht. Er war immer noch wütend auf den Alchemysten, weil er das Leben seiner Schwester in Gefahr gebracht hatte, musste aber zugeben, dass Flamel sich jetzt für sie einsetzte und sich selbst in große Gefahr brachte, um sie zu beschützen. Josh packte Sophie fester, ging auf die Wand aus Wurzeln und gepresster Erde zu, schloss die Augen... und marschierte mitten hindurch.
Er spürte kurz eine feuchte Kälte, und als er die Augen wieder öffnete, sah er Scatty direkt vor sich stehen. Sie befanden sich in einer niedrigen, schmalen Kammer, deren Wände, Decke und Boden ganz aus den knorrigen Wurzeln des Baumes bestanden. Moosplatten verströmten ein schwaches grünes Licht, und Josh sah, dass Scatty am Fuß einer schmalen Treppe stand, die nach oben führte. Sie hatte den Kopf zur Seite geneigt, doch bevor Josh fragen konnte, was sie hörte, trat Flamel durch die Wand. Er lächelte. Aus der Spitze seines Stabs trat ein grünliches Gas. »Das sollte sie eine Weile aufhalten.«
»Gehen wir«, drängte Scatty.
Die Treppe war so schmal, dass Josh mit Sophie auf den Armen mit eingezogenem Kopf seitwärts in einer Art Krebsgang gehen musste. Er drückte seine Schwester nah an sich, damit ihr Kopf und ihre Beine nicht an die rauen Wände stießen. Er tastete jede Stufe mit dem Fuß ab, bevor er darauftrat, denn schließlich wollte er nicht stürzen und seine Schwester fallen lassen. Irgendwann wurde ihm klar, dass die Treppe in den Raum zwischen der inneren und äußeren Rinde des großen Baumes geschnitten sein musste, und unwillkürlich stellte er sich vor, dass ein Baum in der Größe des Yggdrasill durchsetzt war von verborgenen Gängen und Zimmern, vergessenen Kammern und Treppen. Ob Hekate überhaupt wusste, wo sie waren? Dann begannen sich seine Gedanken zu überschlagen, und er fragte sich, wer wohl die Stufen in den lebendigen Baum geschlagen hatte. Dass es Hekate selbst gewesen war, konnte er sich nicht vorstellen.
Beim Hinaufsteigen rochen sie verbranntes Holz und hörten die Kampfgeräusche und Tierschreie immer deutlicher. Als sie sich nicht mehr unter der Erde befanden, nahmen Hitze und Rauch zu, und ein weiteres Geräusch war zu hören: ein tiefes, grollendes Stöhnen.
»Wir müssen uns beeilen.« Scattys Stimme kam aus dem Halbdunkel über ihnen. »Wir müssen uns wirklich beeilen...« Und irgendwie jagte die erzwungene Ruhe in Scattys Stimme Josh mehr Angst ein, als wenn die Kriegerprinzessin geschrien hätte. »Vorsicht! Wir sind jetzt an einem Ausgang angelangt. Wir stehen am Ende einer langen Wurzel, ungefähr dreißig Meter vom Baum entfernt. Und weit genug entfernt vom Kampfgeschehen«, fügte sie hinzu.
Josh bog um die Ecke und sah Scatty im streifigen Licht der Morgensonne, die durch ein Gewirr aus Ranken direkt über ihr schien. Sie drehte sich zu ihm um. Die Sonnenstrahlen färbten ihr rotes Haar golden und flossen fast magisch schön über die Gestalt der Kriegerin, die Klingen und Schafte ihrer kurzen Schwerter. Ringsherum hörte man Kampfgeräusche, doch lauter als alles andere war das tiefe, grollende Stöhnen, das in der Erde zu vibrieren schien.
»Was ist das für ein Geräusch?«, fragte Josh.
»Die Schreie Yggdrasills«, antwortete Scatty grimmig. »Hekates Feinde haben den Weltenbaum in Brand gesteckt.«
»Aber warum?« Josh fand die Vorstellung entsetzlich – dieser uralte Baum hatte doch niemandem etwas getan! Doch die Tat ließ ihn ahnen, welche Verachtung die Dunklen Älteren dem Leben entgegenbrachten.
»Hekates Macht ist untrennbar mit ihm verbunden. Ihre Magie hat ihn so groß werden lassen und seine Lebenskraft erhält ihre Kräfte. Sie glauben, wenn sie ihn vernichten, ist das auch das Ende der Göttin.«
Flamel kam die letzten Stufen heraufgekeucht und stellte sich neben Josh. Sein schmales Gesicht war hochrot und schweißbedeckt. »Ich werde alt«, sagte er mit einem müden Lächeln. Er schaute Scatty an. »Wie sieht dein Plan aus?«
»Einfach. Wir hauen hier ab – und das so schnell wie möglich.« Sie drehte das Schwert in ihrer linken Hand so, dass die Klinge flach auf ihrem ausgestreckten Arm lag.
Flamel und Josh stellten sich dicht neben sie und lugten durch das Rankengewirr in die mit dem Schwertgriff angezeigte Richtung. Am Rand der Wiese war Dr. John Dee erschienen; vorsichtig bewegte er sich durchs Unterholz. Das kurze Schwert mit der schwarzen Klinge, das er mit beiden Händen hielt, leuchtete in einem flackernden, eisblauen Licht.
»Dee«, sagte Flamel. »Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich mich einmal freuen würde, ihn zu sehen. Das ist wirklich wunderbar.«
Sowohl Scatty als auch Josh schauten ihn überrascht an.
»Dee ist ein Mensch... Und das heißt, er kam mit einem von Menschen üblicherweise benutzten Transportmittel hierher«, erklärte Flamel.
»Mit einem Wagen, den er wahrscheinlich direkt vor dem Schattenreich geparkt hat.« Scatty nickte verstehend.
Josh wollte gerade fragen, woher sie wissen wollte, dass er ihn außerhalb geparkt hatte, als ihm die Antwort plötzlich selbst einfiel. »Weil er wusste, dass die Batterie sich entleeren würde, wenn er hier hereinfährt.«
»Seht mal«, murmelte Scatty.
Sie beobachteten, wie ein riesiger Torc Allta in Ebergestalt hinter Dee aus dem hohen Gras auftauchte. Obwohl er noch seine Tiergestalt hatte, stellte er sich auf die Hinterbeine und war somit fast dreimal so groß wie der Magier.
»Er wird ihn umbringen«, murmelte Josh.
Dees Schwert flammte grellblau auf, dann ließ sich der kleine Mann nach hinten fallen, auf den Torc Allta zu. Das Schwert beschrieb dabei einen kurzen Bogen. Die plötzliche Bewegung schien die Kreatur zu irritieren, aber sie schlug die Klinge ohne Mühe beiseite – und erstarrte. Von dort aus, wo die Klinge die Pfote des Ebers berührt hatte, wuchs plötzlich eine dünne Eisschicht das Vorderbein des Tierwesens hinauf; die Eiskristalle glitzerten in der Morgensonne. Bald bedeckte das Eis die Brust des Torc Allta, dann seine kräftigen Hinterbeine und nach oben hin Schultern und Kopf. Innerhalb von Sekunden war die Kreatur in einem von blauen Adern durchzogenen Eisblock gefangen.
Dee stand vom Boden auf, bürstete seinen Mantel ab und schlug dann unvermittelt mit dem Schwertgriff auf den Eisblock ein. Der zerbarst klirrend in Millionen Splitter, die alle ein winziges Stück des Torc Allta enthielten.
»Eines der Elemente-Schwerter«, bemerkte Scatty. »Excalibur, das Eisschwert. Ich dachte, es sei schon vor Urzeiten verschwunden und in den See zurückgeworfen worden, als Artorius starb.«
»Wie es aussieht, hat Dee es gefunden«, murmelte Flamel.
Josh stellte fest, dass er kein bisschen überrascht war, dass es König Arthur tatsächlich gegeben hatte. Er fragte sich höchstens, welche anderen Sagengestalten noch real waren und gelebt hatten.
Sie beobachteten, wie Dee sich rasch wieder ins Unterholz zurückzog. Er schlug die Richtung zur gegenüberliegenden Seite des Baumhauses ein, wo das Schlachtgetümmel am lautesten war. Es roch jetzt stärker nach Rauch. Stechend wirbelte er um den Baum herum und brachte den unangenehmen Geruch alter Bauten und längst vergessener Gewürze mit sich. Holz knackte und brach, Baumsaft brach stoßweise aus der Rinde heraus, und das tiefe Dröhnen war nun so laut, dass es den ganzen Baum zum Vibrieren brachte.
Читать дальше