»Ich mache euch den Weg frei«, sagte Scatty und stürmte durch die Ranken. Fast im selben Augenblick kamen drei Vogelmenschen flügelschlagend auf sie zu. Ihnen folgten zwei Katzenmenschen auf allen vieren.
»Wir müssen ihr helfen«, rief Josh verzweifelt, auch wenn er keine Ahnung hatte, was er tun könnte.
»Sie ist Scathach, sie braucht unsere Hilfe nicht«, erwiderte Flamel. »Sie wird sie zunächst von uns wegführen...«
Scathach lief leichtfüßig ins Unterholz, ihre schweren Stiefel machten auf dem weichen Boden kein Geräusch. Die Vögel und Katzen folgten.
»Sie wird etwas suchen, das ihr den Rücken freihält, sodass sie nur von einer Seite angreifen können. Dann sind sie dran.«
Josh beobachtete Scatty, die herumwirbelte und sich ihren Verfolgern entgegenstellte, im Rücken gedeckt von einer knorrigen Eiche. Die Katzenwesen hatten sie schnell erreicht und schlugen mit den Pfoten nach ihr, doch Scattys kurze Schwerter waren schneller. Ein Vogelwesen schwebte mit ausgestreckten Klauen und mächtigem Flügelschlag dicht über die Kriegerin hinweg. Scatty rammte das Schwert in ihrer Linken in den Boden, packte das Fußgelenk der Kreatur, riss sie zu sich herunter und warf sie mitten unter die fauchenden Katzen. Der Vogel attackierte die Katzen instinktiv und plötzlich bekämpften die Tiere sich gegenseitig. Zwei weitere Vogelmenschen landeten mit grässlichem Geschrei auf den Katzen. Scatty riss ihr Schwert aus dem Boden und gab Flamel und Josh damit ein Zeichen, zu ihr herüberzukommen.
Flamel tippte Josh auf die Schulter. »Los, geh mit Sophie zu ihr.«
»Und du?«
»Ich warte noch einen Augenblick und halte euch den Rücken frei. Dann komme ich nach.«
Josh wusste, dass er sich darauf verlassen konnte, auch wenn Flamel es gewesen war, der sie in Gefahr gebracht hatte. Er nickte, brach durch den Rankenvorhang und stürmte los, seine Schwester fest an sich gedrückt. Außerhalb des Baumes war der Schlachtenlärm unbeschreiblich laut, doch Josh konzentrierte sich ganz auf den Boden, damit er nicht über Wurzeln oder andere Unebenheiten stolperte. Sophie begann sich zu regen, ihre Augenlider flatterten. »Halt still«, sagte Josh eindringlich, auch wenn er nicht sicher war, ob sie ihn hören konnte.
Er wandte sich nach rechts, weg von den kämpfenden Kreaturen. Trotzdem fiel ihm auf, dass sie sich, wenn sie schwer verwundet waren, wieder in ihre ursprüngliche Katzen- oder Vogelgestalt zurückverwandelten. Zwei verständnislos dreinschauende Katzen und drei zerrupfte Krähen rappelten sich gerade vom Boden hoch und beobachteten, wie er vorbeirannte. Josh hörte Flamel hinter sich und roch den Minzeduft in der Luft. Seine Schwester war schwer – aber noch zehn oder fünfzehn Schritte, dann war er bei Scatty und in Sicherheit. Doch gerade als er sie erreichte, sah er, wie Scathach entsetzt die Augen aufriss. Josh schaute über die Schulter. Eine hochgewachsene Frau mit dem Kopf einer Katze und einer Robe, wie man sie nur im alten Ägypten getragen hatte, machte einen Satz von mindestens sechs Metern, landete auf Nicholas Flamels Rücken und warf den Alchemysten zu Boden. Eine sichelförmig gebogene Klaue schoss auf seinen kurzen Stab zu und teilte ihn in zwei Hälften. Dann warf die Kreatur den Kopf zurück und heulte triumphierend.
V ier kleine Wachleute ganz in Schwarz, die Gesichter hinter Motorradhelmen verborgen, holten Perenelle aus ihrer winzigen unterirdischen Zelle.
Sie war sich nicht hundertprozentig sicher, ob es sich um Menschen handelte – eine Aura hatten sie jedenfalls nicht. Sie konnte auch keinen Herzschlag und keine Atemzüge feststellen. Als sie Perenelle umringten, streifte sie eine schwache Ahnung von etwas Altem, Totem, und sie roch faule Eier und überreife Früchte. Vielleicht handelte es sich um Simulacra, Kunstgestalten, die in Bottichen mit einer modrig blubbernden Flüssigkeit herangezüchtet wurden. Perenelle wusste, dass Dee schon immer fasziniert war von der Vorstellung, sich seine Anhänger selbst zu erschaffen, und dass er jahrzehntelang mit Golems, Simulacra und Homunculi herumexperimentiert hatte.
Wortlos, mit ruckartigen Bewegungen führten die vier Gestalten sie aus der Zelle und einen langen, schmalen und nur schwach beleuchteten Gang hinunter. Perenelle ging bewusst langsam, damit sie Zeit hatte, Kräfte zu sammeln und die örtlichen Gegebenheiten in sich aufzunehmen. Jefferson Miller, der Geist des Wachmanns, hatte ihr gesagt, sie befände sich im Keller der Enoch Enterprises im Westen des Telegraph Hill und ganz in der Nähe des berühmten Coit Tower.
Perenelle wusste, dass sie weit unter der Erde war. An den Wänden lief das Wasser herunter, und die Luft war so kalt, dass ihr Atem in kleinen Wolken vor ihrem Gesicht stand. Jetzt wo sie nicht mehr in der mit Schutzzaubern belegten Zelle war, spürte sie, dass ihre Kräfte langsam zurückkehrten. Sie suchte verzweifelt nach einem Zauber, mit dem sie die Wachen belegen könnte, doch durch die Begegnung mit Mr Millers Geist war sie noch immer sehr geschwächt, und außerdem hatte sie pochende Kopfschmerzen, die es schier unmöglich machten, sich zu konzentrieren.
Plötzlich flackerte direkt vor ihr etwas auf. Ihr Atem, neblig weiß in der kalten Luft, hatte kurz ein Gesicht geformt.
Perenelle schaute aus den Augenwinkeln zu ihren Wachen auf beiden Seiten, doch die hatten nichts bemerkt. Sie zog die Luft tief in ihre Lungen, hielt einen Augenblick den Atem an, damit ihr Körper die Luft erwärmen konnte, und stieß sie dann langsam wieder aus. Ein Gesicht erschien im weißen Nebel: das Gesicht von Jefferson Miller.
Perenelle runzelte die Stirn. Eigentlich sollte sein Geist längst im Jenseits sein. Es sei denn... Es sei denn, er war zurückgekommen, um ihr etwas mitzuteilen.
Nicholas!
Instinktiv wusste sie, dass ihr Mann in Gefahr war. Noch einmal holte Perenelle tief Luft und hielt den Atem an. Sie konzentrierte sich ganz auf Nicholas und sah ihn mit ihrem geistigen Auge deutlich vor sich: das schmale, eher melancholische Gesicht, die hellen Augen und das kurz geschnittene Haar. Sie lächelte, weil sie an früher denken musste, als er das dichte schwarze Haar länger getragen hatte als sie. Im Nacken hatte er es immer mit einem purpurfarbenen Samtband zusammengehalten. Sie atmete aus und sofort erschien in der weißen Wolke wieder Jefferson Millers Gesicht. Perenelle schaute dem Geist in die Augen und wie in einem Spiegel sah sie in seinen Pupillen ihren Mann in den Pfoten der katzenköpfigen Göttin.
Wut und Angst überfluteten sie und plötzlich waren ihre Kopfschmerzen und ihre Erschöpfung wie weggeblasen. Ihr mit Silberfäden durchzogenes schwarzes Haar bewegte sich, als wehte ein kräftiger Wind, blaue und weiße Funken sprühten heraus, und es knisterte vor statischer Energie. Ihre schneeweiße Aura umgab sie wie eine zweite Haut.
Zu spät erkannten die Wachen, dass etwas nicht stimmte. Sie wollten sie packen, doch in dem Moment, in dem ihre Hände die leuchtenden Ränder von Perenelles Aura berührten, wurden sie zurückgestoßen, als hätten sie einen elektrischen Schlag erhalten. Einer der Wachen wollte sich auf die Gefangene werfen, doch Perenelles Aura katapultierte ihn knapp unter der Decke an die Wand, und das mit solcher Wucht, dass ihm der Motorradhelm vom Kopf flog. Er rutschte an der Wand herunter, Arme und Beine seltsam verdreht. Als Perenelle sein Gesicht sah, wusste sie, dass es sich tatsächlich um einen Simulacra handelte. Allerdings um einen unfertigen: der Kopf war eine einzige kahle und glatte Fläche, ohne Augen, Nase, Mund und Ohren.
Perenelle lief den Gang hinunter. Als sie auf dem Boden eine ölig aussehende Pfütze erblickte, blieb sie kurz stehen, kauerte sich hin, konzentrierte sich und tauchte ihren Zeigefinger und den kleinen Finger in das trübe Wasser. Ihre weiße Aura zischte und von dem Wasser stieg Rauch auf. Nachdem er sich verzogen hatte, stellte sie fest, dass sie dieselbe Szene vor sich hatte, die sie kurz in den Augen des Geistes gesehen hatte: Ihr Mann lag unter Bastets Krallen. Dahinter wehrte Scatty die angreifenden Katzen und Vögel ab, während Josh mit dem Rücken zu einem Baum stand, einen Ast wie einen Baseballschläger in der Hand hielt und unbeholfen nach allem schlug, das ihm zu nah kam. Vor ihm auf dem Boden lag Sophie und blinzelte verwirrt.
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