Scatty blickte über die Schulter auf die Kammer, in der sich Josh und Sophie jetzt befanden. »Du verlangst sehr viel von ihnen. Wann willst du ihnen die volle Wahrheit sagen?«
»Wenn die Zeit...«, begann er.
Scatty unterbrach ihn. »Aber Zeit ist genau das, was du nicht hast. Der Alterungsprozess hat bereits eingesetzt. Ich sehe es in deinem Gesicht, um die Augen herum. Dein Haar wird grau.«
Flamel nickte. »Ich weiß. Der Unsterblichkeitszauber lässt nach. Jeder Tag, der vergeht, ohne dass wir ihn erneuern können, lässt Perenelle und mich um ein Jahr altern. Ende des Monats werden wir sterben. Aber das spielt dann schon keine Rolle mehr, denn wenn die Dunklen Älteren siegen, gibt es die Welt der Humani bis dahin nicht mehr.«
»Sorgen wir dafür, dass das nicht geschieht.« Scatty wandte sich ab und setzte sich auf den Boden, den Rücken gerade, die Beine in der perfekten Lotus-Position gekreuzt, die Hände locker um die Griffe der Schwerter gelegt, die über ihrem Schoß lagen. Falls die Katzen oder Vögel ins Haus eindrangen und den Gang entdeckten, mussten sie, um Hekate zu erreichen, an ihr vorbeigelangen – und sie würde dafür sorgen, dass sie diesen Vorstoß teuer bezahlten.
Hekate hatte Flamel einen kurzen Stock aus dem Holz des Baumhauses gegeben. Damit stellte er sich jetzt vor die Tür der Kammer, in der die Göttin mit den Zwillingen arbeitete. Falls es einem der Eindringlinge gelingen würde, sich an Scatty vorbeizudrücken, bekam er es mit ihm zu tun. Scatty kämpfte mit ihren Schwertern, mit Händen und Füßen, doch seine Waffen waren womöglich noch vernichtender. Er hob die Hand und der schmale Flur war plötzlich vom Duft nach Minze erfüllt. Er war immer noch mächtig – auch wenn jeder Einsatz von Magie ihn schwächte und an seiner Lebenskraft zehrte. Und Scatty hatte recht: Der Alterungsprozess hatte eingesetzt. Er spürte hier ein leichtes Ziehen und dort einen Schmerz, wo früher nichts gewesen war. Auch sah er nicht mehr so gut wie noch am Tag zuvor. Falls er gezwungen sein würde, Magie einzusetzen, würde das den Verfall seiner Kräfte nur beschleunigen, doch er war entschlossen, Hekate alle Zeit zu verschaffen, die sie brauchte. Er versuchte, ins Dunkel hinter sich zu spähen – vergeblich. Was in der Kammer geschah, wussten nur die drei, die sich darin befanden.
»Wir beginnen mit dem älteren Zwilling«, sagte Hekate.
Sophie merkte, dass ihr Bruder protestieren wollte, und drückte seine Hand so fest, dass sie praktisch hören konnte, wie seine Knochen knackten. Als Antwort trat er ihr gegen den Knöchel.
»Das ist so Tradition«, fuhr die Göttin fort. »Sophie...« Sie hielt kurz inne. »Wie lautet dein Familienname und wie heißen deine Eltern?«
»Newman. Und meine Mutter heißt Sara und mein Vater Richard.« Es kam ihr merkwürdig vor, von ihren Eltern anders zu reden als von Mom und Dad.
Das grüne Licht in der Kammer wurde heller und die Zwillinge sahen Hekates Silhouette vor den leuchtenden Wänden. Ihr Gesicht lag zwar im Dunkeln, doch die Augen reflektierten das grüne Licht, als wären sie aus Glas. Sie legte die Handfläche auf Sophies Stirn. »Sophie, Tochter von Sara und Richard vom Newman-Clan, zugehörig der Rasse der Humani...«
Sie begann in Englisch, glitt dann jedoch wie von selbst in eine fremde wunderschöne, lyrische Sprache hinüber. Sophies Aura begann zu leuchten, ein silberner Nebel umhüllte ihren Körper. Ein kühler Wind strich über ihre Haut, und sie merkte plötzlich, dass sie Hekate nicht mehr hörte. Sie sah, wie sich die Lippen der Göttin bewegten, doch die Geräusche ihres eigenen Körpers waren so laut, dass sie die Worte nicht mehr verstehen konnte. Sie hörte nur noch ihren eigenen Atem, der durch ihre Nase strömte, hörte das Rauschen ihres Blutes in den Ohren, ihren gleichmäßigen Herzschlag in der Brust. Sie spürte einen Druck auf den Schläfen, als dehne sich ihr Gehirn aus, und ein Schmerz lief ihr Rückgrat entlang und verteilte sich von dort wellenförmig in sämtliche Knochen.
Dann wurde es heller in der Kammer. Hekate, die wieder älter geworden war, stand eingerahmt von sich verändernden Strömen glitzernden Lichts. Sophie war sich plötzlich bewusst, dass sie die Aura der Göttin sah. Sie beobachtete, wie die Lichtströme sich um Hekates Arm wanden und in ihre Finger flossen, und dann spürte sie einen stechenden Schmerz, als sie in ihren eigenen Kopf eindrangen. Einen Moment lang war ihr schwindelig, und sie wusste nicht mehr, wo sie war, doch dann ergaben Hekates Worte über dem Rauschen in ihren Ohren einen Sinn. »… erwecke ich diese gewaltige Kraft in dir...« Die Göttin strich mit den Händen über Sophies Gesicht. Ihre Berührung war wie Eis und Feuer zugleich. »Dies sind die Sinne, welche die Humani vernachlässigt haben«, fuhr sie fort und legte leicht die Daumen auf Sophies Augen.
»Scharfes Sehen...«
Sophies Sehvermögen schärfte sich mit einem Schlag. Die Kammer schien plötzlich taghell erleuchtet, jede Einzelheit bis ins kleinste Detail erkennbar. Sie sah jeden Faden und jeden Stich an Hekates Gewand, konnte einzelne Haare auf ihrem Kopf ausmachen und die winzigen Fältchen, die sich in ihren Augenwinkeln bildeten.
»Deutliches Hören...«
Es war, als hätte jemand Wattebäusche aus Sophies Ohren gezogen. Plötzlich hörte sie. Der Unterschied zu vorher war derselbe, wie wenn sie über Kopfhörer Musik aus ihrem iPod hörte und dann dasselbe Stück noch einmal daheim über ihre Stereoanlage. Jedes Geräusch in der Kammer wurde verstärkt: der Atem ihres Bruders, der stoßweise durch seine Nase strömte, das leise Knarren des Baumes über ihr, das Trippeln winziger Kreaturen, die zwischen den Wurzeln umherhuschten. Als sie den Kopf etwas zur Seite neigte, hörte sie in der Ferne sogar Kampfgeräusche: das Kreischen von Vögeln, das Schreien von Katzen und das Gebrüll von Ebern.
»Vielfältiges Schmecken...«
Hekate strich über Sophies Lippen und die Zunge des Mädchens begann zu kribbeln. Sophie leckte sich die Lippen und schmeckte darauf Reste der Früchte, die sie vor einiger Zeit gegessen hatte. Sie stellte sogar fest, dass die Luft einen Geschmack hatte – stark und erdig -, und konnte die Wassertröpfchen darin auf ihren Lippen spüren.
»Empfindsames Tasten...«
Sophies Haut wurde lebendig. Die weiche Baumwolle ihres T-Shirts, der steifere Stoff ihrer Jeans, das Goldkettchen mit ihrem Tierkreiszeichen, das sie um den Hals trug, die warmen Baumwollsocken – alle Materialien waren einzeln zu fühlen und hinterließen ganz und gar unterschiedliche Eindrücke.
»Intensives Riechen...«
Die Explosion der Gerüche, die plötzlich auf sie einströmten, hätte Sophie fast zu Boden geworfen. Ihre Augen tränten. Sie roch die würzigen Anderwelt-Düfte Hekates, das süßlich Erdige ihrer Umgebung, das 24-Stunden-Deo ihres Bruders (das sein in der Werbung gegebenes Versprechen offensichtlich nicht ganz erfüllte), sein angeblich nicht parfümiertes Haargel, den Minzegeruch ihrer eigenen Zahnpasta.
Sophies Aura leuchtete stärker; silberne Schwaden krochen an ihr empor wie Nebel, der von einem See aufsteigt. Sophie schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Farben, Gerüche und Töne strömten auf sie ein, und sie waren heller, intensiver und lauter als alles, was sie je gesehen, gerochen oder gehört hatte. Fast schmerzte die Wirkung ihrer geschärften Sinne – nein, nicht nur fast. Sie hatte Schmerzen. Ihr Kopf tat weh, alle Knochen waren zu spüren, die Haut juckte – es war einfach alles zu viel. Sophies beugte ihren Kopf wieder nach vorn, fast ohne ihr Zutun streckte sie die Arme seitlich aus … Und dann schwebte sie zehn Zentimeter über dem Boden.
»Sophie?«, flüsterte Josh. Er konnte nicht verhindern, dass helle Angst in seiner Stimme mitschwang. »Sophie...!« Eingehüllt in einen silbrig glänzenden Nebel schwebte seine Schwester direkt vor ihm in der Luft. Das Licht, das von ihr ausging, war so stark, dass die runde Kammer in Abstufungen von Silber und Grau strahlte. Die Szene hätte aus einem Fantasyfilm stammen können, so irreal wirkte sie.
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