»Flamel und die anderen sind entwischt«, keuchte er. »Ich bin ihnen bis über die Grenze des Schattenreichs gefolgt. Sie haben unseren Wagen gestohlen«, fügte er entrüstet hinzu.
Mit einem Wutschrei drehte Dee sich um und schleuderte Excalibur gegen den Weltenbaum. Die mächtige Klinge traf den Stamm, und es klang, als würde eine Glocke angeschlagen. Der hohe, klare Ton hing in der Luft – und dann begann Hekates Baum auseinanderzubrechen. Lange Risse bildeten sich im Stamm, begannen unten als schmale Rillen und liefen im Zickzack nach oben, wo sie immer breiter wurden. Innerhalb von Sekunden war der ganze Baum mit dem Zickzackmuster überzogen. Dann bebte er und brach auseinander – stürzte krachend auf die Statue aus Eis, die einmal Hekate gewesen war, und zermalmte sie.
J osh Newman riss die Tür des schwarzen Geländewagens auf. Eine Welle der Erleichterung überflutete ihn. Der Schlüssel steckte. Josh öffnete auch die hintere Tür und hielt sie auf, bis Flamel mit Sophie auf den Armen am Auto angekommen war. Vorsichtig betteten sie sie auf den Rücksitz. Scatty brach durch die Hecke und kam mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht den Weg heruntergelaufen.
»Das«, sagte sie, als sie sich zu Sophie auf den Rücksitz warf, »war das Beste, was ich in den letzten tausend Jahren erlebt habe.«
Josh setzte sich auf den Fahrersitz, stellte ihn seiner Größe entsprechend ein und drehte dann den Schlüssel um. Der Motor des großen V6 begann zu schnurren.
Flamel ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und knallte die Tür zu. »Nichts wie weg hier!«
Josh legte den Gang ein, umklammerte das lederbezogene Lenkrad mit beiden Händen und drückte das Gaspedal voll durch. Der schwere Wagen machte einen Satz nach vorn, Erde und kleine Steine spritzten davon, dann wendete Josh und holperte den schmalen, ausgefahrenen Weg zurück. Zweige von Bäumen und Büschen schrammten an den Seiten des Autos entlang und zerkratzten den bis dahin makellosen Lack.
Obwohl die Sonne inzwischen aufgegangen war, lag der Weg vor ihnen noch immer im Schatten hoher Bäume verborgen. Doch Josh fand den Schalter fürs Licht nicht. Immer wieder schaute er in die Seitenspiegel und den Rückspiegel, weil er jeden Augenblick erwartete, die Morrigan oder Bastet aus dem Gebüsch preschen zu sehen. Erst als der Wald endete und er den schweren SUV im hellen Sonnenschein auf eine schmale und kurvenreiche, aber geteerte Straße lenkte, nahm er den Fuß vom Gas. Der Hummer wurde sofort langsamer.
»Alles klar?«, fragte Josh mit zittriger Stimme.
Er bog den Rückspiegel etwas nach unten, damit er auf die Rückbank sehen konnte. Sophie lag ausgestreckt auf dem breiten Ledersitz, den Kopf in Scattys Schoß. Scathach hatte den Saum ihres T-Shirts abgerissen und tupfte Sophie damit die Stirn ab. Die war totenbleich und zuckte ab und zu, als hätte sie einen Albtraum.
Scatty sah, dass Josh sie im Spiegel beobachtete, und lächelte ihm aufmunternd zu. »Sie ist bald wieder in Ordnung.«
»Kannst du irgendetwas machen?«, fragte Josh Flamel. Inzwischen wusste er gar nicht mehr, was er von dem Alchemysten halten sollte. Der hatte sie zwar einer schrecklichen Gefahr ausgeliefert, aber Josh hatte auch gesehen, mit welchem Einsatz er sie verteidigt hatte.
»Nein, ich kann nichts tun«, erwiderte Flamel müde. »Sie hat sich lediglich sehr verausgabt, weiter nichts.« Auch er sah vollkommen erschöpft aus. Seine Kleider waren schmutzig und vielleicht waren auch Blutflecken darauf. Auf beiden Händen hatte er Kratzspuren von Katzenkrallen. »Lass sie schlafen. Wenn sie in ein paar Stunden wieder aufwacht, geht es ihr gut. Das verspreche ich dir.«
Josh nickte. Er wollte die Unterhaltung nicht fortführen und konzentrierte sich deshalb auf die Straße. Tief im Herzen bezweifelte er, dass es seiner Schwester je wieder gut gehen würde. Er würde nie vergessen, wie sie ihn mit diesem leeren Blick angeschaut und nicht erkannt hatte. Josh hatte die Stimme gehört, die aus ihrem Mund gekommen war. Es war nicht ihre Stimme gewesen. Seine Schwester, seine Zwillingsschwester, war vollkommen verändert.
Sie kamen zu einem Straßenschild und Josh bog links nach Mill Valley ab. Ihm war es egal, wohin sie fuhren, er wollte nur weg von diesem Schattenreich. Und noch lieber wollte er nach Hause, er wollte sein altes Leben wiederhaben, wollte vergessen, dass er die Anzeige in der Unizeitung, die sein Vater mitbrachte, je gelesen hatte:
Aushilfe für Buchhandlung gesucht.
Wir wollen keine Leser, wir wollen
Arbeiter.
Josh hatte sich schriftlich beworben und war wenige Tage später zu einem Gespräch eingeladen worden. Sophie hatte an dem Tag nichts anderes vorgehabt und hatte ihn begleitet. Während sie auf ihn wartete, hatte sie im Café gegenüber eine Chai Latte getrunken. Und als Josh strahlend aus dem kleinen Buchladen gekommen war, weil er den Job bekommen hatte, hatte er erfahren, dass auch Sophie einen Sommerjob gefunden hatte: in der »Kaffeetasse«. Besser hätte es gar nicht kommen können, denn so konnten sie sich praktisch bei der Arbeit zuschauen. Und es war auch alles ganz wunderbar gewesen – bis vor einem Tag, als der ganze Wahnsinn begonnen hatte. Josh konnte kaum glauben, dass es erst einen Tag her war.
Wieder schaute er im Spiegel nach hinten zu Sophie. Sie lag jetzt ruhig da, vollkommen reglos, und er stellte erleichtert fest, dass ihre Wangen wieder etwas Farbe bekommen hatten.
Was hatte Hekate getan? Nein – was hatte Flamel getan? Es war alles seine Schuld. Die Erstgewesene hätte die Kräfte der Zwillinge von sich aus nie geweckt. Sie wusste um die damit verbundenen Gefahren. Aber Flamel hatte nicht locker gelassen und seinetwegen war Hekates paradiesisches Schattenreich jetzt zerstört worden und er kannte seine Schwester nicht mehr.
Als Josh angefangen hatte, für Flamel zu arbeiten, den er damals noch als Nick Fleming kannte, hatte er ihn für etwas sonderbar gehalten, exzentrisch, vielleicht sogar ein bisschen verrückt. Doch als er ihn näher kennenlernte, hatte er ihn ins Herz geschlossen und angefangen, ihn zu bewundern. Fleming war all das, was Joshs Vater nicht war. Er hatte Humor, interessierte sich einfach für alles, was Josh tat, hatte ein phänomenales Allgemeinwissen und nahm überhaupt Anteil an der ganzen Welt. Von seinem Vater wusste Josh, dass der nur wirklich glücklich war, wenn er vor einem Hörsaal voller Studenten stand oder bis zu den Knien im Dreck einer Ausgrabungsstätte.
Fleming war anders. Als Josh Bart Simpson zitiert hatte, konterte Fleming mit Groucho Marx. Dann ging er noch einen Schritt weiter und machte Josh mit den Filmen der Marx Brothers bekannt. Beide liebten sie Musik – auch wenn ihr Geschmack höchst unterschiedlich war. Durch Josh lernte Nick Green Day kennen, Lamb und Dido. Fleming empfahl ihm Genesis und Pink Floyd. Als Josh ihm auf seinem iPod Ambientund Trance-Musik vorspielte, lieh Fleming ihm CDs von Mike Oldfield und Brian Eno. Josh erklärte Fleming, was Blogging ist, und zeigte ihm seinen und Sophies Blog. Sie hatten sogar darüber gesprochen, den gesamten Lagerbestand der Buchhandlung online zu stellen.
Mit der Zeit hatte Josh in Fleming den älteren Bruder gesehen, den er sich immer gewünscht hatte. Und jetzt hatte dieser Mann ihn betrogen.
Flamel hatte ihn von Anfang an belogen. Nicht einmal seinen richtigen Namen hatte er ihm gesagt. In Joshs Kopf begann sich eine unangenehme Frage zu formen. Mit leiser Stimme, die Augen vor sich auf die Straße gerichtet, fragte er: »Hast du gewusst, dass das alles passieren würde?«
Flamel lehnte sich auf dem weichen Ledersitz zurück und wandte sich dann Josh zu, beide Hände am Sicherheitsgurt. »Dass was passieren würde?«, fragte er vorsichtig zurück.
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