»Du weißt schon. Und ich bin kein Kind mehr«, erwiderte Josh, wobei er immer lauter wurde, »also rede nicht so mit mir.« Sophie murmelte etwas im Schlaf, und Josh zwang sich, wieder leiser zu reden. »Hat dein kostbares Buch das alles vorhergesagt?« Aus dem Augenwinkel sah er, wie Scatty ein Stück nach vorn rutschte, um Flamels Antwort nicht zu verpassen.
Flamel nahm sich lange Zeit, bevor er antwortete. Schließlich sagte er: »Es gibt da noch einiges, was du zu Abrahams Buch der Magie wissen musst.« Als er sah, dass Josh den Mund öffnete, fuhr er rasch fort: »Nein, lass mich zu Ende reden. Ich wusste immer, dass der Codex alt ist. Aber von seinem tatsächlichen Alter hatte ich keine Ahnung. Gestern nun sagte mir Hekate, sie sei dabei gewesen, als Abraham ihn zusammengestellt hätte... was dann wohl mindestens zehntausend Jahre her wäre. Die Welt war damals grundverschieden von unserer heutigen. Man geht allgemein davon aus, dass die Menschen irgendwann in der Mitte der Steinzeit auftauchten. Die Wahrheit allerdings sieht völlig anders aus. Sie steckt in unseren Sagen und Legenden. Die Erstgewesenen regierten damals die Welt. Wenn man den Sagen glaubt, konnten sie fliegen, besaßen Schiffe, mit denen sie die Ozeane überquerten, konnten das Wetter beeinflussen und beherrschten das, was wir heute Klonen nennen, in Perfektion. In anderen Worten: Sie hatten Zugang zu so fortgeschrittenen wissenschaftlichen Erkenntnissen, dass wir es Zauberei nennen würden.«
Josh schüttelte den Kopf.
»Bevor du jetzt behauptest, das sei alles viel zu weit hergeholt, denk doch nur mal, wie weit die menschliche Rasse in den letzten zehn Jahren gekommen ist. Hätte zum Beispiel jemand vor zehn Jahren deinen Eltern gesagt, sie könnten ihre gesamte Musiksammlung in der Hosentasche mit sich herumtragen – hätten sie es geglaubt? Wir haben heute Telefone, in denen mehr Elektronik steckt, als verwendet wurde, um die ersten Raketen ins Weltall zu schießen. Wir haben Elektronenmikroskope, mit denen wir einzelne Atome erkennen können. Wir heilen heute routinemäßig Krankheiten, die noch vor fünfzig Jahren tödlich verliefen. Und die Neuerungen folgen immer schneller aufeinander. Wir sind heute in der Lage, Dinge zu tun, die deine Eltern früher noch für unmöglich gehalten hätten und die deinen Großeltern sicher wie Zauberei vorgekommen wären.«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte Josh. Er achtete jetzt sehr genau auf den Tacho. Sie konnten es sich nicht leisten, wegen Geschwindigkeitsüberschreitung angehalten zu werden.
»Was ich damit sagen wollte, ist, dass ich nicht weiß, wozu die Erstgewesenen tatsächlich in der Lage waren. Waren es Prophezeiungen, die Abrahm im Codex machte, oder schrieb er einfach nieder, was er irgendwo gesehen hatte? Machte er sich Gedanken über die Zukunft oder konnte er sie tatsächlich sehen?« Flamel drehte sich ganz auf seinem Sitz herum und fragte Scatty: »Weißt du es?«
Sie zuckte lächelnd die Schultern. »Ich stamme aus der zweiten Generation; die Welt der Erstgewesenen existierte zum Großteil schon nicht mehr, als ich geboren wurde. Und Danu Talis war längst in den Wellen versunken. Ich habe keine Ahnung, wozu sie imstande waren. Ob sie durch die Zeit schauen konnten?« Sie überlegte kurz. »Ich kannte Erstgewesene, die diese Gabe möglicherweise besaßen. Sibylle hatte sie ganz bestimmt und Themis und Melampus natürlich auch. Aber sie haben sich öfter getäuscht, als sie recht hatten. Wenn meine Reisen mich etwas gelehrt haben, dann ist es, dass wir uns unsere eigene Zukunft schaffen. Ich habe Ereignisse, die die Welt erschütterten, kommen und gehen sehen, ohne dass jemand sie vorhergesagt hätte, und ich habe Prophezeiungen gehört – gewöhnlich hatten sie mit dem Ende der Welt zu tun -, die nicht wahr geworden sind.«
Ein Wagen überholte sie auf der schmalen Landstraße, der erste, den sie an diesem Morgen sahen.
»Ich frage dich noch einmal«, begann Josh. Er hatte Mühe, seine Stimme im Zaum zu halten. »Und dieses Mal antwortest du einfach mit Ja oder Nein. War alles, was gerade passiert ist, im Codex vorhergesagt?«
»Nein«, antwortete Flamel rasch.
»Ich höre da ein Aber heraus«, bemerkte Scatty.
Flamel nickte. »Es gibt ein kleines Aber . Es steht nichts in dem Buch über Hekate und das Schattenreich, nichts über Dee oder Bastet und die Morrigan. Aber...« Er seufzte. »Es gibt diverse Vorhersagen zu Zwillingen.«
»Zwillinge«, wiederholte Josh gepresst. »Zwillinge im Allgemeinen oder haben diese Vorhersagen speziell etwas mit Sophie und mir zu tun?«
»Der Codex spricht von Silber-und-Gold-Zwillingen, ›die zwei, die eins sind, und das Eine, das alles ist‹. Es ist kein Zufall, dass eure Auren reines Gold und Silber sind. Deshalb bin ich überzeugt, dass der Codex von dir und deiner Schwester spricht.« Er sah Josh eindringlich an. »Wenn du mich jetzt fragen willst, wie lange ich das schon weiß, ist die Antwort folgende: erst seit gestern. Ich vermutete so etwas, als ihr mir im Laden zu Hilfe gekommen seid. Die Bestätigung erhielt ich dann ein paar Stunden später durch Hekate, als sie eure Aura sichtbar machte. Ich gebe dir mein Wort, dass alles, was ich getan habe, zu eurem Schutz geschehen ist.«
Josh wollte wieder den Kopf schütteln. Konnte er Flamel glauben? Er öffnete den Mund, um etwas zu fragen, doch Scatty legte ihm von hinten die Hand auf die Schulter. »Ich möchte dazu nur eines sagen«, begann sie leise und ernst. »Ich kenne Nicholas Flamel seit langer Zeit. Amerika war noch kaum kolonialisiert, als wir uns kennenlernten. Er ist vieles – gefährlich und verschlagen, listig und mörderisch, ein guter Freund und ein unversöhnlicher Feind -, aber er stammt aus einer Zeit, als das Wort eines Mannes noch etwas galt. Wenn er dir sein Wort gibt, dass alles zu eurem Schutz geschah, schlage ich vor, dass du ihm glaubst.«
Josh trat auf die Bremse und fuhr langsam in eine Kurve. Dann nickte er und stieß seufzend die Luft aus. »Ich glaube dir«, sagte er laut. Doch ganz hinten in seinem Kopf hörte er immer noch Hekates bedeutungsvolle Worte: »Nicholas Flamel sagt nie und niemandem alles.« Und er hatte ganz stark den Eindruck, dass der Alchemyst auch jetzt noch nicht alles gesagt hatte, was er wusste.
Plötzlich legte Nicholas ihm die Hand auf den Arm. »Hier, halt hier an.«
»Warum? Was ist los?«, fragte Scatty und griff sofort nach ihren Schwertern.
Josh blinkte und bog auf den Parkplatz eines Schnellrestaurants ein, dessen Neonreklame gerade angegangen war.
»Nichts ist los.« Flamel grinste. »Nur Zeit zum Frühstücken.«
»Gute Idee, ich bin am Verhungern«, verkündete Scatty. »Ich könnte ein ganzes Pferd essen. Wenn ich keine Vegetarierin wäre... Und wenn mir Pferdefleisch schmecken würde, versteht sich.«
Und wenn du kein Vampir wärst, fügte Josh in Gedanken hinzu. Aber nur in Gedanken.
Sophie wachte auf, während Scatty und Flamel für alle Frühstück zum Mitnehmen bestellten. Gerade hatte sie noch fest geschlafen und im nächsten Moment saß sie kerzengerade auf dem Rücksitz.
Josh zuckte zusammen und stieß unwillkürlich einen erschrockenen Schrei aus. Er fuhr herum, kniete sich auf seinen Sitz und beugte sich über die Rückenlehne. »Sophie?«, fragte er vorsichtig. Er hatte schreckliche Angst, dass ihn wieder etwas Fremdes und Uraltes durch ihre Augen ansehen würde.
»Ich hab vielleicht etwas Seltsames geträumt«, sagte sie, reckte sich und bog den Rücken durch. Ihre Halswirbel knackten, als sie mit dem Kopf rollte. »Autsch. Mir tut alles weh.«
Das hörte sich zumindest an wie seine Schwester. »Wie fühlst du dich?«
»Als sei eine Erkältung im Anmarsch.« Sie blickte sich um. »Wo sind wir? Wem gehört das Auto?«
Josh grinste. »Es gehört Dee. Wir haben es geklaut. Und wir sind auf der Straße von Mill Valley nach San Francisco, denke ich.«
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