Will stand an dem einzigen Fenster, als wäre der Prinz doch noch gekommen. Jacobs Schritte ließen ihn herumfahren. Der Stein färbte ihm nun auch die Stirn, und das Blau seiner Augen ertrank im Gold. Die Plünderer hatten ihnen das Wertvollste gestohlen, was sie hatten. Zeit.
»Kein >und wenn sie nicht gestorben sind<���«, sagte Will mit einem Blick auf die Prinzessin. »Und das hier war auch ein Feenfluch.« Er lehnte sich gegen die Mauer. »Geht es dir besser?«
»Ja«, log Jacob. »Was ist mit dir?«
Will antwortete nicht sofort. Und als er es schließlich tat, klang seine Stimme so glatt und kühl wie seine neue Haut.
»Mein Gesicht fühlt sich an wie polierter Stein. Die Nacht wird mit jedem Tag heller, und ich konnte dich hören, lange bevor du auf der Treppe warst. Ich spüre es inzwischen nicht nur auf der Haut.« Er hielt inne und rieb sich die Schläfen. »Es ist auch in mir.«
Will trat auf das Bett zu und starrte auf den mumifizierten Körper.
»Ich hatte alles vergessen. Dich. Clara. Mich selbst. Ich wollte nur noch zu ihnen reiten.«
Jacob suchte nach Worten, aber er fand nicht eines.
»Ist es das, was passiert? Sag mir die Wahrheit.« Will blickte ihn an. »Ich werde nicht nur aussehen wie sie. Ich werde sein wie sie, oder?«
Jacob hatte die Lügen auf der Zunge, all das >Unsinn, Will, alles wird gut<, aber er brachte sie nicht mehr über die Lippen. Der Blick seines Bruders ließ es nicht zu.
»Willst du wissen, wie sie sind?« Will pflückte der Prinzessin ein Rosenblatt aus dem strohigen Haar. »Sie sind zornig. Ihr Zorn bricht in dir aus wie eine Flamme. Aber sie sind auch der Stein. Sie spüren ihn in der Erde und hören ihn unter sich atmen.«
Er betrachtete die schwarzen Nägel an seiner Hand.
»Sie sind Dunkelheit«, sagte er leise. »Und Hitze. Und der rote Mond ist ihre Sonne.«
Jacob schauderte, als er den Stein in seiner Stimme hörte.
Sag etwas, Jacob. Irgendetwas. Es war so still in der dunklen Kammer.
»Du wirst nicht werden wie sie«, sagte er. »Weil ich es verhindern werde.«
»Wie?« Da war er wieder, dieser Blick, der plötzlich älter war als er. »Ist es wahr, was du den Plünderern erzählt hast? Du bringst mich zu einer anderen Fee?«
»Ja.«
»Ist sie so gefährlich wie die, die das hier getan hat?« Will berührte das pergamentene Gesicht der Prinzessin. »Sieh aus dem Fenster. In den Dornen hängen Tote. Glaubst du, ich will, dass du meinetwegen so endest?«
Aber Wills Blick strafte seine Worte Lügen. Hilf mir, Jacob, sagte er. Hilf mir.
Jacob zog ihn von der Toten fort.
»Die Fee, zu der ich dich bringe, ist anders«, sagte er. Ist sie das, Jacob?, flüsterte es in ihm, aber er beachtete es nicht. Er legte alle Hoffnung, die er hatte, in seine Stimme. Und all die Zuversicht, die sein Bruder hören wollte: »Sie wird uns helfen, Will! Ich verspreche es dir.«
Es funktionierte immer noch. Die Hoffnung säte sich auf Wills Gesicht ebenso leicht aus wie der Zorn. Brüder. Der ältere und der jüngere. Unverändert.
15
WEICHES FLEISCH
Der Dreifinger mit dem Metzgergesicht redete als Erster. Menschen machten so gern die falschen Männer zu ihren Anführern. Hentzau konnte seine Feigheit so deutlich sehen wie das wässrige Blau seiner Augen. Aber immerhin hatte er ihnen ein paar interessante Dinge erzählt, die die Motte Hentzau nicht gezeigt hatte.
Der Jadegoyl war nicht allein. Es war ein Mädchen bei ihm, doch was wichtiger war: Er hatte offenbar einen Bruder, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, ihm die Jade wieder auszutreiben. Wenn der Dreifinger die Wahrheit sagte, wollte er den Jadegoyl zu der Roten Fee bringen.
Kein dummer Gedanke. Sie verabscheute ihre dunkle Schwester ebenso wie die anderen Feen. Aber Hentzau war sicher, dass sie ihren Fluch nicht würde brechen können. Die Dunkle Fee war so viel mächtiger als sie alle.
Kein Goyl hatte die Insel, auf der sie lebten, je gesehen, geschweige denn betreten. Die Dunkle Fee hütete die Geheimnisse ihrer Schwestern, auch wenn sie sie verstoßen hatten, und jeder wusste, dass man nur zu ihnen kam, wenn sie es wollten.
»Wie will er sie finden?«
»Das hat er nicht gesagt!«, stammelte der Dreifinger.
Hentzau nickte der einzigen Soldatin zu, die er dabeihatte. Es bereitete ihm kein Vergnügen, Menschenfleisch zu schlagen. Er konnte sie töten, aber er mied es, sie anzufassen. Nesser hatte damit kein Problem.
Sie trat dem Dreifinger mitten ins Gesicht und Hentzau warf ihr einen warnenden Blick zu. Ihre Schwester war von Menschen erschlagen worden, deshalb übertrieb sie es schnell. Für einen Moment erwiderte Nesser seinen Blick voll Trotz, doch dann senkte sie den Kopf. Ihnen allen klebte der Hass inzwischen wie Schleim auf der Haut.
»Er hat es nicht gesagt!«, stammelte der Dreifinger. »Ich schwör's.«
Sein Fleisch war blass und weich wie das einer Schnecke. Hentzau wandte sich angeekelt ab. Er war sicher, dass sie ihnen alles verraten hatten, was sie wussten, und nur ihretwegen war ihm der Jadegoyl entkommen.
»Erschießt sie«, sagte er und trat nach draußen.
Die Schüsse klangen seltsam in der Stille. Wie etwas, das nicht in diese Welt gehörte. Flinten, Dampfmaschinen, Züge - Hentzau kam all das immer noch unnatürlich vor. Er wurde alt, das war es. Das viele Sonnenlicht hatte seine Augen getrübt, und sein Gehör war durch all den Schlachtenlärm so schlecht, dass Nesser die Stimme hob, wenn sie mit ihm sprach. Kami'en tat, als fiele es ihm nicht auf. Er wusste, dass Hentzau in seinem Dienst alt geworden war. Aber die Dunkle Fee würde dafür sorgen, dass alle anderen es bemerkten, wenn sie erst erfuhr, dass ihm der Jadegoyl ein paar Plünderern wegen entkommen war.
Hentzau sah ihn immer noch vor sich: das Gesicht halb Goyl, halb Mensch, die Haut durchzogen von dem heiligsten Stein, den sie kannten. Er war es nicht. Er konnte es nicht sein. Er war so unecht wie einer der Holzfetische, die Betrüger mit Blattgold überzogen, um sie alten Frauen als massives Gold zu verkaufen. »Seht her, der Jadegoyl ist erschienen, um den König unbesiegbar zu machen. Schneidet nur nicht zu tief, sonst findet ihr Menschenfleisch.« Ja, das war es. Nichts als ein weiterer Versuch der Fee, sich unentbehrlich zu machen.
Hentzau starrte in die aufziehende Nacht und selbst die Dunkelheit verwandelte sich in Jade.
Aber was, wenn du dich irrst, Hentzau? Was, wenn er der echte ist? Was, wenn das Schicksal deines Königs an ihm hängt? Und er hatte ihn entkommen lassen.
Als der Fährtenleser endlich zurückkam, sahen ihm selbst Hentzaus getrübte Augen an, dass er die Spur verloren hatte. Früher hätte er ihn dafür auf der Stelle getötet, aber Hentzau hatte gelernt, den Zorn zu zügeln, der in ihnen allen schlief auch wenn er sich nicht halb so gut darauf verstand wie Kami'en. Das Einzige, was ihm nun blieb, war der Hinweis auf die Feen. Was hieß, dass er seinen Stolz wieder einmal herunterschlucken und einen Boten an die Dunkle Fee schicken musste, um sie nach dem Weg zu fragen. Diese Aussicht schmerzte mehr als die kalte Nacht.
»Du wirst die Spur für mich finden!«, fuhr er den Fährtensucher an. »Sobald es hell wird. Drei Pferde und ein Fuchs. Das kann doch nicht so schwer sein!«
Er fragte sich gerade, wen er zu der Fee schicken sollte, als Nesser zögernd auf ihn zutrat. Sie war gerade erst dreizehn Jahre alt. Goyl waren längst ausgewachsen in diesem Alter, aber die meisten kamen frühestens mit vierzehn zur Armee. Nesser war weder besonders geschickt mit dem Säbel noch eine gute Schützin, doch sie machte beide Schwächen mit ihrem Mut mehr als wett. In ihrem Alter kannte man keine Furcht und hielt sich auch ohne Feenblut in den Adern für unsterblich. Hentzau erinnerte sich noch gut an das Gefühl.
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