Der Onyxhäutige nahm die Brille ab und blickte sich um. Sein goldgetränkter Blick glich so sehr dem von Will, dass Jacob das Pferd zügelte und ihm nachstarrte, bis ihn das ärgerliche Schimpfen einer Zwergenfrau, deren winzigen Kindern er den Weg versperrte, wieder zu sich brachte.
Zwergenstadt, geschrumpfte Welt.
Jacob gab die Stute in einem der Mietställe hinter der Mauer ab. Die Hauptstraßen von Terpevas waren breit wie Menschengassen, doch abseits davon konnte die Stadt nicht verhehlen, dass ihre Bewohner kaum größer als sechsjährige Kinder waren, und einige Gassen waren so eng, dass Jacob selbst zu Fuß kaum hindurchpasste. Die Städte der Spiegelwelt wuchsen wie Fungus und Terpevas war keine Ausnahme. Der Rauch der zahllosen Kohleöfen schwärzte Fenster und Mauern, und der Gestank, der in der kalten Herbstluft hing, kam nicht von welkem Laub, auch wenn die Kanalisation der Zwerge besser war als die der Kaiserin. Mit jedem Jahr, das Jacob in ihr verbrachte, schien die Welt hinter dem Spiegel sich mehr anzustrengen, ihrer Schwester auf der anderen Seite gleich zu werden.
Jacob konnte kaum ein Straßenschild lesen, weil er das Zwergen-Alphabet nur bruchstückhaft beherrschte, und schon bald hatte er sich hoffnungslos verirrt. Als er sich den Kopf zum dritten Mal am selben Friseurladen-Schild stieß, hielt er einen Botenjungen an und fragte ihn nach dem Haus von Evenaugh Valiant, Im- und Exporthändler für Raritäten jeder Art. Der Junge reichte ihm kaum bis an die Knie, aber er blickte auf der Stelle freundlicher zu ihm hoch, als Jacob zwei Kupfertaler in seine winzige Hand zählte. Der Knirps huschte so schnell davon, dass Jacob ihm in den belebten Gassen kaum folgen konnte, doch schließlich machte er vor dem Hauseingang halt, durch den Jacob sich vor drei Jahren schon einmal gezwängt hatte.
Valiants Name stand in goldenen Lettern auf der milchigen Scheibe, und Jacob musste sich, wie damals, tief ducken, um durch den Türrahmen zu passen. Evenaugh Valiants Vorzimmer war gerade so hoch, dass Menschen aufrecht darin stehen konnten. Die Wände schmückten Fotos seiner bedeutendsten Kunden. Inzwischen ließ man sich auch hinter dem Spiegel nicht mehr malen, sondern fotografieren, und nichts demonstrierte Valiants Geschäftssinn besser als die Tatsache, dass das Bild der Kaiserin neben dem eines Goyloffiziers hing. Die Rahmen waren aus Mondsilber, und von der Decke hing eine Lampe, die mit den Glashaaren eines Flaschengeists besetzt war, was den Zwerg ein Vermögen gekostet haben musste. Alles zeugte von gut gehenden Geschäften. Es gab sogar zwei Sekretäre statt der grimmigen Zwergin, die Jacob bei seinem letzten Besuch empfangen hatte.
Der kleinere hob nicht mal den Kopf, als Jacob vor seinem kaum kniehohen Schreibtisch stehen blieb, und der zweite musterte ihn mit der üblichen Verachtung, mit der Zwerge allen Menschen begegneten, auch wenn sie mit ihnen Geschäfte machten.
Jacob schenkte ihm sein freundlichstes Lächeln. »Ich nehme an, Herr Valiant handelt immer noch mit den Feen?«
»Allerdings. Aber Mottenkokons können wir zurzeit nicht liefern.« Die Stimme des Sekretärs war, wie bei vielen Zwergen, erstaunlich tief. »Versuchen Sie es in drei Monaten noch mal.«
Damit wandte er sich wieder seinen Papieren zu. Doch sein Kopf fuhr hoch, als Jacob mit einem sachten Klicken die Pistole spannte.
»Ich bin nicht wegen Mottenkokons hier. Darf ich Sie beide in den Schrank da bitten?«
Zwerge sind berüchtigt für ihre Körperstärke, aber die zwei waren äußerst schmächtige Exemplare, und Valiant zahlte ihnen offenbar nicht genug, um sich von irgendeinem dahergelaufenen Menschen erschießen zu lassen. Sie ließen sich ohne Widerstand in den Schrank sperren, und er sah stabil genug aus, um sicherzustellen, dass sie während Jacobs Unterhaltung mit ihrem Arbeitgeber nicht die Zwergenpolizei riefen.
Das Wappen, das auf Valiants Bürotür prangte, zeigte über der Feenlilie das Wappentier der Valiants: einen Dachs auf einem Berg von Goldtalern. Die Tür, an der es hing, war aus Rosenholz, einem Material, das nicht nur für seinen hohen Preis, sondern auch für seine Schalldichte bekannt war, wodurch Valiant nichts von den Geschehnissen in seinem Vorzimmer mitbekommen hatte.
Er saß hinter einem Menschenschreibtisch, dessen Beine er hatte kürzen lassen, und paffte mit geschlossenen Augen eine Zigarre, die sich selbst im Mund eines Rieslings nicht klein ausgenommen hätte. Evenaugh Valiant hatte sich den Bart abrasiert, wie es bei den Zwergen neuerdings Mode war. Die Augenbrauen, buschig wie die all seiner Artgenossen, waren sorgfältig getrimmt, und sein maßgeschneiderter Anzug war aus Samt, einem Stoff, den Zwerge über alles schätzten. Jacob hätte ihn zu gern aus seinem Wolfsledersessel gepflückt und aus dem Fenster dahinter geworfen, aber die Erinnerung an Wills versteinerndes Gesicht hielt ihn zurück.
»Ich hatte doch gesagt, keine Störung, Banster!« Der Zwerg seufzte, ohne die Augen zu öffnen. »Geht es schon wieder um den Kunden, der den ausgestopften Wassermann reklamiert hat?«
Er war fetter geworden. Und älter. Das krause rote Haar wurde bereits grau, früh für einen Zwerg. Die meisten wurden mindestens hundert, und Valiant war erst an die sechzig - falls er nicht auch log, was sein Alter betraf.
»Nein, wegen eines ausgestopften Wassermanns bin ich eigentlich nicht hier«, sagte Jacob und richtete die Pistole auf den kraushaarigen Kopf. »Aber ich habe vor drei Jahren für etwas bezahlt, das ich nicht bekommen habe.«
Valiant verschluckte sich fast an seiner Zigarre und starrte Jacob so entgeistert an, wie man es mit einem Besucher tat, den man einer Herde angreifender Einhörner überlassen hatte.
»Jacob Reckless!«, stieß er hervor.
»Sieh an, du erinnerst dich an meinen Namen.«
Der Zwerg ließ die Zigarre fallen und fuhr mit der Hand unter den Schreibtisch, aber er zog die kurzen Finger mit einem Aufschrei zurück, als Jacob ihm mit dem Säbel den maßgeschneiderten Ärmel aufschlitzte.
»Pass auf, was du tust!«, sagte Jacob. »Du brauchst nicht beide Arme, um mich zu den Feen zu bringen. Du brauchst auch deine Ohren und deine Nase nicht. Hände hinter den Kopf. Na, mach schon!«
Valiant gehorchte - und verzog den Mund zu einem allzu breiten Lächeln.
»Jacob!«, säuselte er. »Was soll das? Ich wusste natürlich, dass du nicht tot bist. Schließlich hat man die Geschichte überall gehört. Jacob Reckless, der glückliche Sterbliche, der ein Jahr der Gefangene der Roten Fee war. Jedes männliche Wesen in diesem Land, ob Zwerg, Mensch oder Goyl, vergeht vor Neid bei der bloßen Vorstellung. Und gib zu: Wem verdankst du dieses Glück? Evenaugh Valiant! Hätte ich dich vor ihren Einhörnern gewarnt, dann hätten sie dich bestimmt in eine Distel oder irgendeinen Fisch verwandelt wie andere ungeladene Besucher. Aber nicht einmal die Rote Fee kann einem Mann widerstehen, der hilflos in seinem Blut liegt!«
Die Dreistigkeit dieser Argumentation musste selbst Jacob bewundern.
»Erzähl schon!«, raunte Valiant ihm ohne jeden Ansatz von Schuldbewusstsein über den viel zu großen Schreibtisch zu. »Wie war sie? Und wie hast du es angestellt, ihr wieder davonzulaufen?«
Jacob packte den Zwerg zur Antwort an seinem maßgeschneiderten Kragen und zog ihn hinter dem Schreibtisch hervor. »Hier ist mein Angebot: Ich werde dich nicht erschießen und dafür führst du mich noch einmal in ihr Tal. Aber diesmal zeigst du mir, wie man an den Einhörnern vorbeikommt.«
»Was?« Valiant versuchte, sich loszumachen, aber die Pistole stimmte ihn schnell um. »Das ist ein Ritt von mindestens zwei Tagen!«, zeterte er. »Ich kann hier nicht so einfach alles stehen und liegen lassen!«
Jacob stieß ihn zur Antwort nur unsanft auf die Tür zu.
Im Vorraum flüsterten die zwei Sekretäre im Schrank. Valiant warf einen ärgerlichen Blick in ihre Richtung und pflückte seinen Hut vom Kleiderhaken neben der Tür.
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