»Nein, nicht das Geld. Das brauche ich.« Mat schob die Münzen in seine Tasche. Die Erklärung gab für ihn nicht viel her. Außer, daß es Galad gutging. Alles, was er über die Verhältnisse zwischen Behütern und Aes Sedai wußte, waren ein paar Dinge, die er von Lan und Moiraine mitbekommen hatte, und da kam nichts von dem vor, was Gawyn andeutete. »Glaubst du, sie hätten etwas dagegen, wenn ich den Einsatz von ihm hole?«
»Wahrscheinlich hätten sie etwas dagegen«, sagte Hammar trocken, der sich ihnen anschloß. »Ihr genießt bei diesen besonderen Aes Sedai im Moment kein sehr hohes Ansehen.« Er schnaubte. »Man sollte denken, daß selbst Grüne Ajah sich nicht mehr so benehmen sollten wie kleine Mädchen, die gerade vom Schürzenzipfel ihrer Mutter losgekommen sind. So gut sieht er auch wieder nicht aus.«
»Stimmt«, sekundierte Mat.
Gawyn grinste sie beide an, bis Hammar ihm einen bösen Blick zuwarf. »Hier«, sagte der Behüter und drückte Mat zwei weitere Silbermünzen in die Hand. »Ich hole sie mir später von Galad zurück. Wo kommst du her, Junge?«
»Manetheren.« Mat erstarrte, als er den Namen aus seinem eigenen Mund hörte. »Ich meine, ich komme von den Zwei Flüssen. Ich habe wohl zu viele alte Geschichten gehört.« Sie blickten ihn nur wortlos an. »Ich... ich glaube, ich gehe jetzt zurück und sehe zu, daß ich etwas zu essen bekomme.« Die Vormittagsglocke hatte noch nicht einmal geläutet, aber sie nickten, als sei das selbstverständlich.
Er behielt den Bauernspieß, denn niemand hatte ihm gesagt, er solle ihn zurückgeben. Dann ging er langsam davon, bis die Bäume den Übungsplatz hinter ihm verdeckten. Anschließend lehnte er sich auf seinen Stock, als sei der das einzige, was ihn noch aufrecht halten könne. Das stimmte wohl auch.
Er glaubte, wenn er seinen Mantel öffnete, müsse ein Loch dort erscheinen, wo sein Magen gewesen war. Das Loch wurde immer größer und drohte auch den Rest von ihm aufzusaugen. Doch er dachte kaum an seinen Hunger. Er hörte immer wieder diese Stimme in seinem Kopf. Ihr sprecht die Alte Sprache, Junge? Manetheren. Das ließ ihn schaudern. Licht, hilf mir, ich schaufle mir noch mein eigenes Grab. Ich muß hier weg. Aber wie? Er humpelte zur Burg zurück wie ein alter, alter Mann. Wie?
Egwene lag auf Nynaeves Bett, stützte ihr Kinn auf eine Hand und beobachtete Nynaeve, die im Zimmer unruhig auf und ab lief. Elayne saß vor dem Kamin, in dem noch die Asche vom Feuer des Vorabends lag. Noch einmal las Elayne die Liste der Namen durch, die Verin zusammengetragen hatte. Geduldig las sie Wort für Wort erneut. Die anderen Seiten mit der Liste der gestohlenen Ter'Angreal lagen auf dem Tisch. Nachdem sie sie einmal erschrocken durchgelesen hatten, mieden sie dieses Thema in ihren Gesprächen. Dafür sprachen und stritten sie über alles andere.
Egwene unterdrückte ein Gähnen. Es war erst Vormittag, aber keine von ihnen hatte viel geschlafen. Sie hatten früh aufstehen müssen, um in der Küche zu arbeiten und das Frühstück vorzubereiten. Und um andere Dinge zu erledigen, an die sie nicht zurückdenken wollte. Das bißchen Schlaf, das sie fertiggebracht hatte, war von unangenehmen Träumen erfüllt gewesen. Vielleicht könnte mir Anaiya helfen, sie zu verstehen, jedenfalls diejenigen, die ich verstehen möchte, aber... Aber falls sie eine Schwarze Ajah ist... ? Nachdem sie letzten Abend jede Frau in dem Saal daraufhin gemustert hatte, ob sie möglicherweise eine Schwarze Ajah sei, konnte sie kaum noch jemand anderem trauen, als eben ihren beiden Gefährtinnen. Aber sie hätte schon gern gewußt, was manche ihrer Träume bedeuteten.
Die Alpträume über das, was letzten Abend innerhalb des Ter'Angreals geschehen war, waren leicht zu verstehen. Sie war mittendrin tränenüberströmt aufgewacht. Sie hatte auch von den Seanchan geträumt, von Frauen in Kleidern mit auf der Brust aufgenähten Blitzen, die eine lange Reihe von Frauen mit Schlangenringen am Halsband führten und sie zwangen, Blitze auf die Weiße Burg zu schleudern. Das hatte ihr den kalten Schweiß aus den Poren getrieben und sie war wieder aufgewacht. Zum Glück war es nur ein Alptraum gewesen. Wie auch der Traum von den Weißmänteln, die ihrem Vater die Hände fesselten. Sie glaubte, dieser Alptraum entstamme ihrem Heimweh. Aber die anderen...
Sie sah wieder die beiden anderen Frauen an. Elayne las noch. Nynaeve lief nach wie vor auf und ab.
Da war ein Traum von Rand gewesen, der nach einem anscheinend aus Kristall bestehenden Schwert gegriffen hatte und das feine Netz nicht bemerkte, das sich von oben her auf ihn senkte. Und einmal hatte er in einem Zimmer gekniet, wo ein heißer, trockener Wind Staub über den Boden fegte und Geschöpfe, ähnlich dem auf dem Drachenbanner, aber viel kleiner, auf dem Wind herantrieben und sich auf seiner Haut niederließen. Dann hatte sie geträumt, wie er in ein großes Loch in einem schwarzen Berg hineinmarschiert war. Das Loch war von innen her mit dem roten Glühen aus riesigen Feuern darunter erfüllt. Und in einem Traum schließlich stand er den Seanchan gegenüber.
Bei diesem letzten Traum war sie sich nicht sicher, aber sie wußte, daß die übrigen etwas zu bedeuten hatten. Damals, als sie noch sicher war, Anaiya trauen zu können, bevor sie die Burg verlassen hatte, bevor sie erfuhr, daß die Schwarzen Ajah Wirklichkeit waren, hatte sie ja die Aes Sedai ganz vorsichtig ein wenig auszuhorchen versucht. Anaiya hatte das sicher nur für ihre übliche Neugier gehalten. Dabei hatte sie erfahren, daß die Träume von Ta'veren bei einem echten Träumer fast immer etwas zu bedeuten hatten, und je stärker ta'veren diese Person war, desto sicherer konnte die Bedeutung bestimmt werden.
Aber Mat und Perrin waren ebenfalls ta'veren, und sie hatte auch von ihnen geträumt. Seltsame Träume, noch schwieriger zu verstehen als die von Rand. Perrin mit einem Falken auf der Schulter und Perrin mit einem Habicht. Nur, daß der Habicht eine Leine im Schnabel hielt. Egwene war sich irgendwie sicher, daß sowohl Falke wie auch Habicht Weibchen waren. Der Habicht versuchte, Perrin die Leine um den Hals zu legen. Das ließ sie schaudern; sie mochte keine Träume von Leinen und Halsbändern. Und dieser Traum von Perrin — einem bärtigen Perrin! —, der ein riesiges Wolfsrudel anführte, das sich erstreckte, soweit das Auge sehen konnte. Die Träume von Mat waren noch schlimmer gewesen. Mat, der sein eigenes linkes Auge auf eine Waagschale legte. Mat, der an einem Baum aufgehängt war. Es war auch ein Traum von Mat und den Seanchan dabeigewesen, aber den tat sie als wirklichen Alptraum ab. Das mußte einfach ein Alptraum gewesen sein. Genau wie der, in dem Mat die Alte Sprache sprach. Das mußte von dem herrühren, was sie während seiner Heilbehandlung gehört hatte.
Sie seufzte, und aus dem Seufzen wurde wieder ein Gähnen. Sie und die anderen waren nach dem Frühstück in Mats Zimmer gegangen, um nachzusehen, wie es ihm ging, doch er war nicht dagewesen.
Vielleicht geht es ihm schon wieder gut genug zum Tanzen! Licht, jetzt werde ich vermutlich davon träumen, wie er mit Seanchan tanzt. Keine Träume mehr, sagte sie sich entschlossen. Nicht jetzt. Ich denke wieder darüber nach, wenn ich nicht so müde bin. Sie dachte an die Küche, an das bevorstehende Mittagessen und dann das Abendessen und morgen wieder das Frühstück, und an Töpfe und nicht enden wollendes Putzen und Schrubben. Falls ich die Müdigkeit jemals wieder loswerde. Sie änderte ihre Position auf dem Bett und betrachtete ihre Freundinnen wieder. Elayne beäugte immer noch die Namensliste. Nynaeves Schritte waren langsamer geworden. Jeden Augenblick wird Nynaeve wieder damit anfangen. Sie wird es wieder sagen. Nynaeve blieb direkt vor Elayne stehen und sah auf sie hinab. »Leg das weg. Wir sind die Liste zwanzigmal durchgegangen, und sie enthält kein hilfreiches Wort. Verin hat uns da Quatsch aufgehalst. Die Frage ist nur: War das alles, was sie hatte, oder hat sie uns mit Absicht nur diesen Quatsch gegeben?«
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