Egwene schloß die Faust um den Ring, damit sie ihn nicht sehen konnte. Sie hatte das dumme Gefühl, daß Else ihn angestarrt habe.
»Ich habe eine Nachricht für euch«, sagte Else ruhig. Sie betrachtete den Tisch, auf dem die Papiere verstreut lagen und dann die drei Frauen, die ihn umstanden. »Von der Amyrlin.«
Egwene tauschte verblüffte Blicke mit Elayne und Nynaeve.
»Also, was ist?« wollte Nynaeve wissen.
Else zog amüsiert die Augenbrauen hoch. »Die von Liandrin und den anderen zurückgelassenen Besitztümer wurden in dem dritten Lagerraum auf der rechten Seite von der Haupttreppe aus im zweiten Keller unter der Bibliothek untergebracht.« Sie blickte noch einmal zu den Papieren auf dem Tisch hinüber und ging. Sie bewegte sich weder hastig noch langsam.
Egwene raubte es den Atem. Wir haben Angst, uns irgend jemand anzuvertrauen, und die Amyrlin traut Else Grinwell vor allen Frauen?
»Diesem närrischen Mädchen kann man zutrauen, jedem alles zu erzählen, der sie danach fragt!« Nynaeve ging zur Tür.
Egwene raffte ihren Rock hoch und schoß an ihr vorbei. Ihre Schuhe glitten auf den Kacheln der Galerie fast aus, aber sie sah gerade noch einen weißen Schimmer von der nächstgelegenen Rampe verschwinden und hetzte hinterher. Sie rennt bestimmt auch, sonst wäre sie nicht so weit voraus. Warum rennt sie? Das weiße Aufblitzen zeigte sich bereits wieder ein Stück weiter unten. Egwene folgte ihr.
Eine Frau wandte sich am Fuß der Rampe zu ihr um, und Egwene blieb verwirrt stehen. Wer das auch war, Else war es bestimmt nicht. Ganz in Silber und weißer Seide erregte sie Gefühle in Egwene, die diese nicht von sich kannte. Sie war größer und viel schöner, und unter dem Blick aus ihren schwarzen Augen fühlte sich Egwene ganz klein, schäbig und unsauber. Sie kann vermutlich viel mehr an Macht beherrschen als ich. Licht, sie ist möglicherweise klüger als wir drei zusammen. Es ist nicht fair, daß eine Frau so... Plötzlich wurde ihr klar, wohin ihre Gedanken führten. Ihre Wangen liefen rot an, und sie schüttelte sich schnell. Sie hatte sich niemals einer anderen Frau so... unterlegen... gefühlt, und damit sollte sie erst gar nicht anfangen.
»Kühn«, sagte die Frau. »Ihr seid kühn, so allein hier herumzurennen, wo so viele Morde geschehen sind.« Es klang beinahe erfreut.
Egwene richtete sich auf und strich ihr Kleid glatt. Sie hoffte, die andere Frau würde es nicht bemerken, was sie aber doch tat, und sie wünschte, die andere hätte sie nicht wie ein Kind rennen gesehen. Hör auf damit! »Verzeiht, aber ich suche eine Novizin, die hier durchkam, wie ich glaube. Sie hat große, dunkle Augen und dunkles Haar. Sie trägt Zöpfe. Sie ist mollig und durchaus hübsch. Habt Ihr gesehen, wohin sie ging?«
Die hochgewachsene Frau musterte sie amüsiert von oben bis unten. Egwene war nicht sicher, aber sie hatte das Gefühl, die Frau habe ganz kurz ihre geballte Faust betrachtet, in der der Steinring noch steckte. »Ich glaube nicht, daß Ihr sie einholen werdet. Ich habe sie gesehen, und sie rannte ziemlich schnell. Ich schätze, mittlerweile ist sie weit weg.«
»Aes Sedai«, begann Egwene, aber sie bekam keine Chance, zu fragen, in welche Richtung Else gelaufen sei. Etwas wie Zorn oder Ärger blitzte aus diesen schwarzen Augen.
»Ich habe mir mit Euch genug Zeit genommen. Ich muß mich um wichtigere Dinge kümmern. Verlaßt mich jetzt.« Sie deutete nach hinten in die Richtung, aus der Egwene gekommen war.
Der Befehlston war so ausgeprägt, daß Egwene sich umwandte und bereits drei Schritte die Rampe hoch war, bevor ihr klar wurde, was sie tat. Aufgebracht drehte sie sich um. Aes Sedai oder nicht, ich...
Die Galerie war leer.
Mit finsterer Miene überlegte sie. Die Türen hier kamen nicht in Frage, denn dort wohnte niemand — höchstens ein paar Mäuse. Sie rannte weiter hinunter, sah sich nach beiden Seiten um. Die ganze Biegung der Galerie herum war niemand zu sehen. Sie spähte über das Geländer hinunter in den kleinen Garten der Aufgenommenen und dann auch hoch zu den anderen Galerien. Sie sah zwei Aufgenommene in ihren gesäumten Kleidern. Die eine war Faolain, und die andere Frau kannte sie vom Sehen her, auch wenn ihr der Name nicht einfiel. Aber nirgends zeigte sich eine Frau in Silber und Weiß.
Kopfschüttelnd ging Egwene zu den Türen zurück, die sie übergangen hatte. Sie muß doch irgendwohin gegangen sein! Im ersten Zimmer waren die wenigen Möbelstücke nur formlose Klumpen unter verstaubten Laken, und die Luft war so schal, als sei die Tür lange Zeit nicht mehr geöffnet worden. Sie verzog das Gesicht. Auf dem Boden waren tatsächlich die Spuren von Mäusen zu sehen. Aber keine anderen. Hinter zwei weiteren hastig geöffneten Türen bot sich das gleiche Bild. Es war nicht überraschend. Es gab noch so viele leere Zimmer an den Galerien der Aufgenommenen.
Als sie gerade den Kopf aus der Tür des dritten Zimmers zog, kamen Nynaeve und Elayne ohne besondere Eile die Rampe herunter.
»Hat sie sich versteckt?« fragte Nynaeve überrascht. »Dort drinnen?«
»Ich habe ihre Spur verloren.« Egwene sah sich noch einmal nach allen Seiten hin um. Wo ist sie nur abgeblieben? Sie meinte aber nicht Else.
»Wenn ich geglaubt hätte, Else könne schneller rennen als du«, sagte Elayne lächelnd, »hätte ich sie auch verfolgt, aber meiner Meinung nach war sie immer zu mollig, um schnell rennen zu können.« Doch ihr Lächeln wirkte ein wenig gezwungen.
»Wir müssen sie eben später suchen«, sagte Nynaeve. »Und dann müssen wir sichergehen, daß sie den Mund hält. Wie konnte die Amyrlin diesem Mädchen trauen?«
»Ich glaubte, ich sei gleich hinter ihr«, sagte Egwene bedächtig, »aber es war jemand anders. Nynaeve, ich habe ihr nur einen Moment lang den Rücken zugewandt, und sie war weg! Nicht Else — ich habe sie noch nicht einmal zu Gesicht bekommen —, sondern die Frau, die ich zuerst für Else hielt. Sie war einfach... weg, ich weiß nicht, wohin.«
Elayne stockte sichtlich der Atem. »Eine der Seelenlosen?« Sie sah sich schnell um, aber die Galerie war bis auf sie und ihre Freundinnen immer noch leer.
»Sie nicht«, sagte Egwene prompt. »Sie... « Ich werde ihnen nicht auf die Nase binden, daß ich mich vor ihr fühlte, als sei ich noch sechs Jahre alt, mit einem zerrissenen Kleid, einem schmutzigen Gesicht und laufender Nase. »Sie gehörte nicht zu den Grauen Männern. Sie war groß und auffallend, hatte schwarze Augen und schwarzes Haar. Ihr würdet sie unter tausend Leuten sofort erkennen. Ich habe sie nie zuvor gesehen, aber ich glaube, sie ist eine Aes Sedai. Sie muß eine sein.«
Nynaeve wartete darauf, daß sie mehr sagte, und dann sprach sie ungeduldig: »Wenn du sie wiedersiehst, dann zeig sie mir. Falls du es für nötig hältst. Wir haben keine Zeit, hier schwatzend herumzustehen. Ich will sehen, was sich in diesem Lagerraum befindet, bevor Else eine Gelegenheit hat, der falschen Person davon zu erzählen. Vielleicht waren sie leichtsinnig. Wir dürfen ihnen keine Chance geben, ihre Fehler zu korrigieren, falls sie welche begingen.«
Als sie neben Nynaeve weiterging, Elayne an ihrer anderen Seite, kam Egwene zu Bewußtsein, daß sie den Steinring — Corianin Nedeals Ter'Angreal — immer noch in der geballten Faust hielt. Zögernd steckte sie ihn in die Tasche und zurrte den Riemen fest. Solange ich nicht mit dem blutigen Ding schlafen gehe... Aber das plane ich doch, oder? Doch das würde erst am Abend geschehen, und jetzt gab es andere Dinge, über die sie sich Gedanken machen mußte. Während sie durch die Burg schritten, hielt sie Ausschau nach der Frau in Silber und Weiß. Sie war sich nicht darüber im klaren, warum sie Erleichterung fühlte, als sie sie nicht fand. Ich bin eine erwachsene Frau und durchaus selbst in der Lage, auf mich aufzupassen. Danke schön. Sie war froh, daß niemand, den sie trafen, auch nur annähernd ähnlich aussah wie diese Frau. Je mehr sie über sie nachdachte, desto sicherer war sie, daß mit ihr etwas nicht stimmte. Licht, fange ich nun an, schon unter meinem Bett Schwarze Ajah zu sehen? Na ja, vielleicht sind wirklich welche unter meinem Bett.
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