Der Illianer nickte. »Ihr wirklich sehen nach Krankheit aus im Gesicht. Vielleicht das sein Grund. Aber nie ich haben gehört von soviel Mühe, damit ein Mann bleiben in Stadt.«
»Das ist der Grund«, beharrte Mat energisch. Sie sahen ihn immer noch alle an. »Na ja, ich muß weiter. Sie sagten, ich solle viel spazierengehen. Lange Spaziergänge. Um wieder zu Kraft zu kommen, wißt Ihr.«
Er fühlte ihre Blick auf sich ruhen, als er weiterging. Seine Miene verfinsterte sich. Er hatte nur auf den Busch klopfen wollen, ob seine Beschreibung tatsächlich überall herumgegangen war. Falls nur die Offiziere unter den Brückenwächtern Bescheid gewußt hätten, hätte er vielleicht durchschlüpfen können. Es war immer eine seiner Stärken gewesen, ungesehen irgendwo hinein zu kommen und auch wieder heraus. Das war ein Talent, das man entwickelte, wenn die Mutter einen immer in Verdacht hatte, wieder etwas anstellen zu wollen, und wenn man vier Schwestern hatte, die einen verpetzten. Und jetzt habe ich es geschafft, daß die halbe Kaserne mit Wachsoldaten mich auch wirklich kennt. Blut und blutige Asche! Ein großer Teil des Geländes der Weißen Burg bestand aus Gärten voller Bäume — Lederblatt und Korkeiche und Ulmen meistens. Bald schlenderte er einen breiten, gewundenen Kiesweg entlang. Er hätte sich mitten auf dem Land befinden können, wenn nicht die Türme der Burg über den Baumwipfeln sichtbar gewesen wären. Und natürlich das mächtige, weiße Hauptgebäude der Burg, das wohl hinter ihm lag, aber dessen Gewicht er irgendwie auf den Schultern spürte, als trüge er es mit sich herum. Falls es unbewachte Ausgänge aus dem Burggelände gab, dann waren sie am ehesten hier zu finden. Falls sie existierten.
Ein Mädchen im weißen Novizinnenkleid erschien vor ihm auf dem Weg und schritt zielbewußt in seine Richtung. Sie war so in Gedanken versunken, daß sie ihn zunächst nicht wahrnahm. Als sie nahe genug war, daß er ihre großen, dunklen Augen sehen konnte und die Zöpfe, die sie trug, grinste er plötzlich. Er kannte dieses Mädchen — die Erinnerungen trieben aus verhüllten Tiefen herauf —, obwohl er niemals erwartet hätte, sie hier zu treffen. Er hatte überhaupt nicht erwartet, sie jemals wieder zu sehen. Er grinste in sich hinein. Glück und Unglück heben sich auf. Wie er sich erinnerte, hatte sie sich sehr für Jungs interessiert.
»Else!« rief er ihr zu. »Else Grinwell. Erinnert Ihr Euch noch an mich? Mat Cauthon. Ein Freund und ich haben den Hof Eures Vaters besucht. Denkt Ihr noch daran? Habt Ihr Euch also entschlossen, Aes Sedai zu werden?«
Sie blieb abrupt stehen und sah ihn an. »Was tut Ihr hier draußen?« fragte sie kalt.
»Ihr wißt also auch Bescheid?« Er trat auf sie zu, doch sie wich vor ihm zurück und wahrte den Abstand. Er blieb stehen. »Es ist nicht ansteckend. Ich bin geheilt worden, Else.« Diese großen, dunklen Augen schienen mehr Wissen zu enthalten als damals, und sie wirkten nicht annähernd so warm, aber er glaubte, das käme eben davon, wenn man bei den Aes Sedai lernte. »Was ist los, Else? Ihr schaut drein, als kennt Ihr mich nicht.«
»Ich kenne Euch«, sagte sie. Ihr ganzes Benehmen entsprach nicht mehr dem, an das er sich erinnerte. Jetzt konnte sie beinahe Elayne noch eine Lektion in Hochnäsigkeit erteilen. »Ich habe... Arbeit zu erledigen. Laßt mich vorbei.«
Er verzog das Gesicht. Der Weg war breit genug, daß sechs nebeneinander einhergehen konnten, ohne sich zu behindern. »Ich sagte Euch doch, daß es nicht ansteckend ist.«
»Laßt mich vorbei!«
Er knurrte nur und trat an den Rand des Kieswegs. Sie ging ganz auf der gegenüberliegenden Seite an ihm vorbei und paßte genau auf, daß er sich ihr nicht näherte. Kaum vorbei, beschleunigte sie ihren Schritt und blickte so lange zu ihm zurück, bis sie hinter der nächsten Kurve außer Sicht war. Wollte sichergehen, daß ich ihr nicht folge, dachte er mürrisch. Zuerst die Wächter und nun Else. Ich habe heute wohl keinen Glückstag. Er ging wieder los und hörte bald wildes Geklapper von der einen Seite vor ihm, als ob Dutzende von Stöcken aufeinanderschlügen. Neugierig bog er in diese Richtung ab und schritt zwischen die Bäume.
Nach wenigen Schritten erreichte er einen weiten, festgetrampelten, kahlen Platz. Er war mindestens fünfzig Schritt breit und beinahe doppelt so lang. In Abständen sah er unter den Bäumen am Rand des Platzes Gestelle, in denen Bauernspieße und hölzerne Übungsschwerter hingen, einfache Waffen aus zusammengebundenen Latten, und einige wenige richtige Schwerter, Äxte und Speere.
Auf dieser freien Fläche sah er eine Reihe von Männerpaaren, meist mit freiem Oberkörper, die mit Übungsschwertern aufeinander losschlugen. Bei einigen wirkten die Bewegungen so flüssig, als tanzten sie miteinander, glitten aus einer Fechtfigur übergangslos in die andere und hieben und parierten ohne die kleinste Unterbrechung. Es gab außer ihrem offensichtlichen Können keinen sichtbaren Unterschied zwischen ihnen und den anderen, aber Mat war sicher, daß es sich um Behüter handelte.
Diejenigen, die sich nicht so elegant bewegten, waren ohne Ausnahme jünger, wobei ein älterer Mann jeweils eines dieser Paare überwachte. Diese Männer strahlten selbst im Stehen noch etwas Gefährliches aus. Behüter und Schüler, dachte Mat.
Er war nicht der einzige Zuschauer. Keine zehn Schritte von ihm entfernt standen ein halbes Dutzend Frauen mit alterslosen Aes-Sedai-Gesichtern und noch einmal genauso viele in den mit Farbbändern gesäumten Kleidern der Aufgenommenen. Sie alle beobachteten ein Paar von Schülern, das mit nackten, schweißüberströmten Oberkörpern unter der Leitung eines Behüters focht. Der Behüter wirkte wie ein Steinklotz. Er hielt eine kurzstielige Pfeife, aus der Tabaksrauch quoll, in der Hand, mit der er seine beiden Schüler dirigierte.
Mat setzte sich mit übergeschlagenen Beinen unter einen Lederblattbaum, grub drei große Kieselsteine aus dem Boden und begann, gelangweilt mit ihnen zu jonglieren. Er fühlte sich nicht unbedingt schwach, aber das Sitzen tat ihm doch gut. Falls es wirklich einen Weg aus dem Burggelände gab, würde der auch nicht weglaufen, während er ein wenig rastete.
Bevor er auch nur fünf Minuten dort war, wußte er, wen die Aes Sedai und die Aufgenommenen beobachteten. Einer der beiden Schüler des klotzigen Behüters war ein hochgewachsener, graziler junger Mann, der sich wie eine Katze bewegte. Und beinahe so hübsch aussieht wie ein Mädchen, dachte Mat trocken. Alle Frauen starrten diesen schlanken Burschen mit glänzenden Augen an, sogar die Aes Sedai.
Er ging mit seinem Übungsschwert beinahe so gut um wie die Behüter. Gelegentlich entlockte er seinem Lehrer eine anerkennende Bemerkung. Es war auch nicht so, daß sein Gegner, ein Junge, ungefähr in Mats Alter und mit rotgoldenem Haar, ungeschickt gewesen wäre. Ganz im Gegenteil, soweit Mat es beurteilen konnte. Natürlich hatte Mat nie selbst mit einem Schwert umgehen gelernt. Der goldhaarige Jüngling parierte jeden Blitzangriff und ließ das Schwert seines Gegners abrutschen, bevor es ihn traf. Manchmal brachte er es sogar zu einem Gegenangriff. Aber der gutaussehende Bursche parierte diese dann und griff einen Herzschlag später schon wieder geschmeidig selbst an.
Mat verlegte die Kieselsteine in nur eine Hand, ohne sein Jonglieren zu unterbrechen. Sie wirbelten nach wie vor durch die Luft. Er glaubte nicht, auch nur einem der beiden im Kampf gewachsen zu sein. Ganz bestimmt nicht mit einem Schwert.
»Pause!« Die Stimme des Behüters klang, als schütte man Steine aus einem Eimer. Schwer atmend senkten die beiden ihre Übungsschwerter. Ihr Haar war schweißverklebt. »Ihr könnt euch ausruhen, bis ich meine Pfeife fertiggeraucht habe. Aber erholt euch schnell, ich habe nicht mehr viel Tabak drinnen.«
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