»Die Mutter macht sich Sorgen um Euch«, sagte Sheriam und zog Egwene auf die Seite. Dort gab es ein flauschiges Handtuch für ihr Haar und noch eines für ihren Körper.
»Inwieweit hatte sie einen Grund dafür?« fragte Egwene. Die Amyrlin will nicht, daß ihrer Jagdhündin etwas zustößt, bevor der Hirsch erlegt ist.
Sheriam antwortete nicht. Sie runzelte nur leicht die Stirn und wartete dann, bis Egwene trocken war. Anschließend reichte sie ihr ein weißes Kleid, das unten mit sieben Ringen gesäumt war.
Sie schlüpfte leicht enttäuscht in das Kleid. Sie gehörte zu den Aufgenommenen, hatte den Ring am Finger und die Streifen an ihrem Kleid. Warum fühle ich mich nicht anders als zuvor? Elaida kam herüber mit Egwenes Novizinnenkleid und den Schuhen, der Gürteltasche und den Papieren auf den Armen, die ihr Verin gegeben hatte. Elaida hatte sie in der Hand!
Egwene zwang sich dazu, zu warten, bis die Aes Sedai ihr das Bündel reichte, und es ihr nicht statt dessen aus den Händen zu reißen. »Ich danke Euch, Aes Sedai.« Sie bemühte sich, die Papiere nur flüchtig anzusehen. Sie konnte nicht sagen, ob sie durchgeblättert worden waren. Die Kordel war noch verschnürt. Wie kann ich wissen, ob sie das alles gelesen hat? Sie drückte ihre Gürteltasche zurück unter das schützende Novizinnenkleid und fühlte kurz nach dem eigenartigen Ring darin, dem Ter'Angreal. Der ist wenigstens noch da. Licht, sie hätte ihn wegnehmen können, und ich weiß nicht einmal, ob mir das unrecht gewesen wäre. Doch, wäre es. Ich glaube, es wäre mir nicht recht gewesen.
Elaidas Gesichtsausdruck war so kalt wie ihre Stimme. »Ich wollte nicht, daß man Euch heute abend hierherbringt. Nicht, weil ich voraussah, was geschehen würde — das konnte niemand wissen. Wohl aber, weil Ihr eine Wilde seid.« Egwene versuchte, zu widersprechen, doch Elaida fuhr so unbeeindruckt wie ein Gletscher fort: »O ja, ich weiß, Ihr habt bei einer Aes Sedai gelernt, die Macht zu lenken, aber Ihr seid immer noch eine Wilde. Eine Wilde im Geist und eine Wilde im Verhalten. Ihr habt ein enormes Potential, sonst hättet Ihr heute abend nicht überlebt, aber das Potential ändert nichts. Ich glaube nicht, daß Ihr jemals ein Teil der Weißen Burg sein werdet, nicht so, wie wir anderen es sind, gleich, an welchem Finger Ihr den Ring tragt. Es wäre besser für Euch gewesen, Ihr hättet lediglich gelernt, zu überleben, und wärt dann wieder in Euer verschlafenes Dorf zurückgekehrt. Viel besser.« Sie wirbelte herum und stolzierte los, aus dem Raum.
Wenn die keine Schwarze Ajah ist, dachte Egwene angeekelt, dann steht sie ihnen jedenfalls nahe. Laut sagte sie zu Sheriam: »Ihr hättet etwas sagen können. Ihr hättet mir helfen können.«
»Einer Novizin hätte ich geholfen, Kind«, antwortete Sheriam ruhig, und Egwene zuckte zusammen. Nun war sie wieder bei ›Kind‹ angelangt. »Ich bemühe mich, Novizinnen in Schutz zu nehmen, wenn es nötig ist, da sie sich noch nicht selbst beschützen können. Ihr seid jedoch nun eine Aufgenommene. Es wird Zeit, daß Ihr lernt, Euch selbst zu beschützen.«
Egwene sah Sheriam in die Augen, um festzustellen, ob sie sich die besondere Betonung des letzten Satzes nur eingebildet hatte. Sheriam hatte genauso wie Elaida Gelegenheit gehabt, die Namensliste zu lesen und auf den Gedanken zu kommen, daß Egwene mit den Schwarzen Ajah zu tun hatte. Licht, jetzt verdächtigst du schon jedermann. Aber besser das, als tot sein oder gefangen von dreizehn Schwarzen und... Hastig verdrängte sie diesen Gedanken. »Sheriam, was ist heute abend geschehen?« fragte sie statt dessen. »Und vertröstet mich nicht wieder.« Sheriam zog die Augenbrauen fast bis zum Haaransatz hoch, und sie fügte ganz schnell hinzu: »Sheriam Sedai, meine ich natürlich. Vergebt mir, Sheriam Sedai.«
»Denkt daran, daß Ihr noch keine Aes Sedai seid, Kind.« Trotz des Stahls, der in ihrer Stimme mitschwang, lächelte Sheriam ein wenig, doch das Lächeln verschwand sofort wieder, als sie fortfuhr: »Ich weiß nicht, was passiert ist. Aber ich fürchte sehr, daß Ihr heute abend beinahe gestorben wärt.«
»Wer weiß, was mit denen geschieht, die nicht mehr aus einem Ter'Angreal herauskommen?« sagte Alanna, die sich zu ihnen gesellte. Die Grüne Schwester war für ihr aufbrausendes Temperament und ihren Humor bekannt. Manche behaupteten, sie könne von dem einen auf das andere innerhalb eines Sekundenbruchteils umschwenken und auch wieder zurückkehren. Der Blick, den sie Egwene jetzt zuwarf, war beinahe mitleidig. »Kind, ich hätte alles aufhalten sollen, als ich die Möglichkeit hatte, als ich zuerst diese... Rückkoppelung bemerkte. Das geschah nämlich dann wieder. Diesmal war es tausendmal stärker. Zehntausendmal! Der Ter'Angreal schien sich vor dem Strom von Saidar verschließen zu wollen, oder sich direkt durch den Fußboden hindurchzuschmelzen. Nehmt meine Entschuldigung an, obwohl ich weiß, daß Worte hier nicht genügen. Nicht für das, was mit Euch beinahe geschehen wäre. Ich sage das offen, und Ihr wißt, es ist die Wahrheit, beim Ersten Eid. Um meine Gefühle auszudrücken, werde ich die Mutter darum bitten, Eure Arbeit in der Küche mit Euch teilen zu dürfen. Und, ja, auch Euren Besuch bei Sheriam. Hätte ich meine Pflicht erfüllt, wärt Ihr nicht in Lebensgefahr geraten, und das will ich wiedergutmachen.«
Sheriam lachte angewidert. »Das wird sie niemals erlauben, Alanna. Eine Schwester in der Küche, und noch dazu... Das hat es noch nie gegeben! Das ist unmöglich! Ihr habt getan, was Ihr für richtig hieltet. An Euch lag es nicht!«
»Es war nicht Eure Schuld, Alanna Sedai«, sagte Egwene. Warum tut Alanna das? Oder will sie mich nur davon überzeugen, daß sie nichts mit der Panne zu tun hatte? Damit sie vielleicht künftig ein Auge auf mich haben kann? Doch dieses Bild — eine stolze Aes Sedai, die dreimal am Tag bis zu den Ellbogen in schmierigen Töpfen steckte, nur um jemanden im Auge zu behalten — überzeugte sie davon, daß ihre Phantasie mit ihr durchgegangen war. Denn es war wirklich undenkbar, daß Alanna so handeln sollte. Und auf jeden Fall hatte die Grüne Schwester keine Gelegenheit gehabt, die Namensliste zu sehen, während sie mit dem Ter'Angreal arbeitete. Aber wenn Nynaeve recht hat, braucht sie diese Liste keineswegs zu sehen, um mich umbringen zu wollen, falls sie eine Schwarze Ajah sein sollte. Hör endlich auf damit! »Es war wirklich nicht Eure Schuld.«
»Hätte ich meine Pflicht erfüllt«, beharrte Alanna, »wäre es nie dazu gekommen. Das einzige Mal, daß ich so etwas Ähnliches erlebt habe, war vor Jahren, als wir versuchten, einen Ter'Angreal zu benützen, der sich im gleichen Raum befand wie ein anderer. Der andere war möglicherweise irgendwie mit ihm verbunden. Es ist aber schon äußerst selten, daß man zwei von der gleichen Sorte findet. Beide schmolzen damals, und jede Schwester innerhalb von hundert Schritt Entfernung hatte eine Woche lang derartige Kopfschmerzen, daß sie nicht einen Funken der Macht lenken konnte. Was ist los, Kind?«
Egwenes Hand verkrampfte sich um ihre Gürteltasche, bis sich der verdrehte Steinring durch den dicken Stoff hindurch in ihre Handfläche drückte. War er warm? Licht, ich bin selbst an allem schuld! »Nichts, Alanna Sedai. Aes Sedai, Ihr habt nichts Falsches getan. Ihr habt keinen Grund, meine Strafe mit mir zu teilen. Keinen. Überhaupt keinen!«
»Ein wenig zu vehement vorgetragen«, sagte Sheriam, »aber wahr.« Alanna schüttelte nur den Kopf.
»Aes Sedai«, sagte Egwene bedächtig, »was bedeutet es, eine Grüne Ajah zu sein?« Sheriam riß amüsiert die Augen auf, und Alanna grinste ganz offen.
»Hat gerade den Ring am Finger«, sagte die Grüne Schwester, »und schon überlegt sie, welche Ajah sie erwählen soll? Zuerst müßt Ihr Männer lieben. Ich meine nicht, daß Ihr verliebt sein müßt, aber Ihr müßt sie lieben. Nicht wie eine Blaue, die Männer lediglich mag, solange sie mit ihr an einem Strang ziehen und nicht im Weg stehen. Und ganz sicher nicht wie die Roten, die sie verachten, als sei jeder einzelne Mann für die Zerstörung der Welt verantwortlich.« Alviarin, die Weiße Schwester, die mit der Amyrlin gekommen war, warf ihnen einen kühlen Blick zu und ging weiter. »Und nicht wie eine Weiße«, lachte Alanna, »die in ihrem Leben überhaupt keinen Platz für Leidenschaft hat.«
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