Plötzlich wurde ihm bewußt, daß Chandos und die Männer, die er mitbringen sollte, immer noch nicht da waren. Sie hätten längst eintreffen müssen.
Er sagte sich, daß er es nicht riskieren konnte, auf sie zu warten. Er mußte diesen Ort verlassen. Er würde Padishar Creel tragen, da seine Bemühungen, ihn zu Bewußtsein zu bringen, gescheitert waren. Steff würde er zurücklassen müssen.
Als erstes rettete er das Schwert von Leah und steckte es vorsichtig in die provisorische Scheide. Dann trug er Teel und danach Steff zu der Spalte und warf sie hinunter.
Mittlerweile war er so schwach, daß er nicht mehr dar- an glaubte, den weiten Weg durch den Geheimgang zurücklegen zu können, ganz zu schweigen davon, daß er Padishar Creel tragen mußte. Aber es gelang ihm, ihn auf seine Schulter zu heben, und mit einer Fackel, die ihm den Weg wies, ging er los.
Es schien ihm, als wäre er bereits Stunden unterwegs, während er nichts hörte als die Geräusche seiner Stiefel auf dem Stein. Wo war Chandos? fragte er sich ein ums andere Mal. Warum war er nicht gekommen? Er stolperte und fiel fast unaufhörlich. Seine Knie und Hände bluteten. Plötzlich kamen ihm wunderliche Dinge in den Sinn, seine Jugendzeit und seine Familie, die Abenteuer, die er zusammen mit Par und Coll erlebt hatte, Steff und die Zwerge von Culhaven. Zeitweise mußte er weinen, als er daran dachte, was aus ihnen geworden war. Immer wenn er das Gefühl hatte, gleich zusammenzubrechen, redete er auf Padishar Creel ein, doch dieser schlief ruhig weiter. Und es schien, als nähme der Weg kein Ende.
Als Chandos schließlich in Begleitung einer Schar Geächteter sowie Axhinds und seiner Trolle doch noch auftauchte, hatte Morgan aufgegeben. Erschöpft war er zusammengebrochen.
Ebenso wie Padishar Creel wurde er den Rest des Weges getragen; dabei versuchte er zu berichten, was passiert war. Er wußte nicht wirklich, was er sagte. Er erinnerte sich später daran, daß Chandos von einem erneuten Angriff der Föderation berichtete, der ihn daran gehindert hatte, so schnell zu kommen, wie er vorgehabt hatte.
Es war immer noch dunkel, als sie auf der Anhöhe ankamen, und Morgan mußte feststellen, daß der Zeigefinger tatsächlich angegriffen wurde, vielleicht zur Ablenkung von den Soldaten, die durch den Geheimgang heran- schlichen. Die Vorbereitungen für die Flucht waren jedoch abgeschlossen. Die Verwundeten waren transportbereit. Morgan gehörte zu den letzteren. Chandos tauchte auf und unterhielt sich mit Morgan.
»Alles in Ordnung, Hochländer«, hörte Morgan ihn sagen. »Die Soldaten der Föderation befinden sich bereits im Geheimgang, aber die Taue der Brücken sind gekappt worden. Das wird sie für einige Zeit aufhalten – lang genug, damit wir uns sicher aus dem Staub machen können. Wir nehmen andere Stollen. Auch sie führen nach draußen, verstehst du? Der Weg wird etwas beschwerlicher durch die vielen Abzweigungen, die man nicht verfehlen darf. Aber Padishar Creel weiß, was er tut. Er überläßt nichts dem Zufall. Er ist wieder wach und kümmert sich darum, daß alle in Sicherheit kommen. Er ist zäh, der alte Padishar. Aber nicht zäher als du. Du hast ihm das Leben gerettet, jawohl. Du hast ihn in letzter Minute gerettet. Ruh dich jetzt aus. Es geht bald los.«
Morgan schloß die Augen und fiel in Schlaf. Er wurde durch das Rucken der Bahre, auf der er lag, sowie das Flüstern und die Schmerzensschreie der Männer, die ihn umgaben, mehr als einmal aus dem Schlaf gerissen.
Schließlich zwang er sich, wach zu bleiben, und versuchte den Kopf zu heben. Doch der Schmerz, der ihm wie ein Messer in den Nacken fuhr, ließ ihn sofort wieder niedersinken.
Padishar Creel trat zu ihm. Ein riesiger Verband zierte seinen Kopf, und sein Arm war geschient. »Nun, mein Junge, wie geht’s?« fragte er.
Morgan nickte, schloß die Augen und öffnete sie wieder.
»Wir verlassen diesen Ort jetzt«, sagte Padishar Creel. »Daß wir es können, verdanken wir dir. Und Steff. Chandos hat mir alles erzählt. Er war sehr mutig, der Zwerg.« Er wandte sich ab. »Tja, der Zeigefinger ist verloren, aber das ist ein kleiner Preis für unser Leben.«
Morgan stellte fest, daß er keine Lust hatte, sich über den Preis des Lebens zu unterhalten. »Hilf mir auf, Padishar«, bat er. »Ich möchte diesen Ort auf meinen eigenen Füßen verlassen.«
Der Anführer der Geächteten lächelte. »Wollen wir das nicht alle, mein Junge?« fragte er. Dann streckte er seinen gesunden Arm aus und half Morgan in die Höhe.
Die Welt, in der sich Par und Coll Ohmsford befanden, war eine Welt der Alpträume. Die Stille war angespannt und endlos, eine gähnende Leere. Kein Laut, kein Vogelgezwitscher und kein Summen von Insekten, kein Plätschern oder Kratzen, nicht einmal das Rascheln des Windes in den Bäumen kündete von Leben. Die Bäume erhoben sich in den Himmel gleich steinernen Statuen.
Natürlich war auch der Nebel da. Der Nebel war zuerst, zuletzt und immer da, eine tiefe und allgegenwärtige graue See. Träge hing er in der Luft, unbeweglich bedeckte er Bäume und Sträucher; er glich einem Schleier, durch die das Licht und die Wärme der Sonne nicht durchdringen konnte. Er berührte die Haut mit einer kalten, feuchten Beharrlichkeit, die von toten Dingen kündete.
Par und Coll bewegten sich langsam, vorsichtig durch ihren Wachtraum, während sie gegen das Gefühl ankämpften, körperlose Wesen zu sein. Ihre Augen glitten von Schatten zu Schatten, suchten nach Spuren von Bewegung und fanden nur Bewegungslosigkeit. Die Welt, die sie betreten hatten, schien ohne Leben, als wären die Schattenwesen, die sie dort wußten, nicht vorhanden, sondern einfach eine Lüge ihres Traums, die sie mit ihren Sinnen nicht begreifen konnten.
Sie begaben sich schnell zu den Trümmern der Sendic-Brücke. Lautlos schritten sie durch das hohe Gras und über die feuchte Erde. Par warf einen Blick zu der Tür zurück, durch die sie gekommen waren. Sie war nirgendwo zu sehen.
In wenigen Sekunden war all das, was vom Palast der Könige von Tyrsis übriggeblieben war, ebenfalls verschwunden.
Als ob es nie da gewesen wäre, dachte Par düster. Ihm war kalt, aber auch wieder heiß. Den Gefühlen, die in seinem Inneren tobten, konnte er weder Beachtung schenken noch ihrer Herr werden; sie schrien mit Stimmen, die verwirrt klangen, jede verzweifelt darum bemüht, sich Gehör zu verschaffen. Er spürte, wie sein Herz in der Brust hämmerte, und fühlte das nahe Bevorstehen seines Todes bei jedem Schritt, den er tat. Er wünschte, er wäre in der Lage, die Magie kurz zu beschwören, um die Gewißheit zu haben, daß er ein gewisses Maß an Macht besaß, um sich zu verteidigen. Aber die Anwendung der Magie würde die Wesen, die in der Schlucht lebten, warnen, und er wollte glauben, daß dies bisher noch nicht geschehen war.
Coll berührte seinen Arm und deutete auf eine Stelle, wo sich eine Spalte vor ihnen auftat. Sie mußten sie umgehen. Par nickte und ging voran. Colls Anwesenheit gab ihm ein Gefühl der Sicherheit, so als könne seine bloße Gegenwart das Böse, das sie bedrohte, von ihnen abhalten. Seine Freude darüber, daß sein Bruder ihn begleitete, ließ sich nicht mit Worten beschreiben. Colls Mut in dieser Situation war zu einem großen Teil Quelle seines eigenen.
Sie umgingen die Falle und arbeiteten sich wieder zu den Trümmern der Brücke zurück. Alles um sie herum war unverändert, still und bewegungslos, bar allen Lebens.
Aber dann schimmerte etwas dunkel im vor ihnen lie- genden Nebel, eckige Umrisse, die sich aus den Trümmern erhoben.
Hastig eilten sie darauf zu, Par voraus, Coll nur einen Schritt hinter ihm. Steinerne Wände kamen plötzlich in Sicht. Pflanzen rankten sich daran hoch und über das schräge Dach. Der Kuppelbau war größer, als Par ihn sich vorgestellt hatte, gute fünfzehn Meter im Durchmesser und mindestens sechs Meter hoch. Er erinnerte an eine Krypta.
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