Terry Brooks
Die Schatten von Shannara
Der König vom Silberfluß stand am Rande des Gartens, der seit der Dämmerung des Elfenzeitalters seine Sphäre war, und blickte hinaus auf die Welt der sterblichen Menschen. Was er sah, machte ihn traurig und mutlos. Überall kränkelte das Land und starb, fruchtbarer schwarzer Humus wurde zu Staub, grasbewachsene Ebenen welkten dahin, Wälder wurden zu riesigen Gebieten toten Holzes, und Seen und Flüsse versandeten und trockneten aus. Und allenthalben wurden auch die Geschöpfe, die das Land bewohnten, krank und starben, außerstande sich zu ernähren, weil die Nahrung, auf die sie angewiesen waren, zunehmend giftiger wurde. Selbst die Luft hatte begonnen, faulig zu werden.
Und währenddessen, dachte der König vom Silberfluß, werden die Schattenwesen immer stärker.
Seine Finger streichelten die karmesinroten Blüten der Zyklamen, die üppig zu seinen Füßen wuchsen. Große Forsythienbüsche standen gleich dahinter, Hartriegel und Kirschen ein Stück weiter, Fuchsien und Hibiskus, Rhododendron und Dahlien, Beete mit Iris, Azaleen, Gänseblümchen, Rosen und hundert andere Arten von Blumen und Blütensträuchern, die immer in Blüte standen, ein Reichtum an Farben, der sich in die Ferne erstreckte, so weit das Auge reichte. Auch Tiere waren zu sehen, große und kleine, Geschöpfe, deren Evolution zurückverfolgt werden konnte in jene längst vergangenen Zeiten, als alles in Frieden und Harmonie lebte.
In der gegenwärtigen Welt der Vier Länder und der Rassen, die sich aus Chaos und Zerstörung der Großen Kriege entwickelt hatten, war diese Zeit fast ganz vergessen. Der König vom Silberfluß war der einzige, der übriggeblieben war. Er hatte schon gelebt, als die Welt noch neu war und ihre ersten Geschöpfe gerade geboren wurden. Damals war er jung gewesen, und es hatte viele gegeben, die so waren wie er. Jetzt war er alt, und er war der Letzte seiner Art. Alles, was einmal gewesen war, mit Ausnahme der Gärten, in denen er lebte, war verschwunden. Nur die Gärten überlebten unverändert, getragen von der Elfenmagie. Das Wort hatte dem König vom Silberfluß die Gärten gegeben und ihm aufgetragen, sie zu pflegen und als Mahnmal dessen, was einmal war und was eines Tages vielleicht wieder sein würde, zu erhalten. Die Welt draußen würde sich entwickeln, wie sie mußte, doch die Gärten würden für immer bleiben, wie sie waren.
Und dennoch schrumpften sie. Es war nicht so sehr materiell, sondern spirituell. Die Grenzen der Gärten lagen unveränderlich fest, denn sie existierten auf einer Ebene, die von den Veränderungen der sterblichen Welt nicht beeinflußt wurden. Die Gärten waren eher eine Gegenwart als ein Ort. Doch diese Gegenwart wurde durch die Krankheit der Welt, an die sie gebunden war, vermindert, denn die Aufgabe der Gärten und ihres Pflegers bestand darin, jene Welt stark zu erhalten. Je vergifteter die Vier Länder wurden, desto schwerer wurde diese Aufgabe, desto schwächer die Auswirkung dieser Arbeit, und die Kraft menschlichen Glaubens und Vertrauens in ihre Existenz – die immer ein wenig schwankend gewesen war – begann, ganz und gar zu versiegen.
Der König vom Silberfluß war bekümmert darüber. Er trauerte nicht um seiner selbst willen, er stand über solchen Gefühlen. Er trauerte für die Völker der Vier Länder, die sterblichen Männer und Frauen, die Gefahr liefen, die Elfenmagie für immer zu verlieren. Die Gärten im Lande des Silberflusses waren jahrhundertelang ihre Zuflucht gewesen, und er ihr spiritueller Freund, der seine Völker beschützte. Er hatte über sie gewacht, hatte ihnen ein Gefühl von Frieden und Wohlergehen vermittelt, das die körperlichen Grenzen überstieg, und hatte das Versprechen gegeben, daß Wohlwollen und guter Wille in manchen Winkeln der Welt noch immer für alle zugänglich wären. Das war nun vorbei. Er konnte niemanden mehr schützen. Das Übel der Schattenwesen, das Gift, das sie über die Vier Länder gebracht hatten, hatte seine eigene Kraft untergraben, bis er wahrhaftig innerhalb seiner Gärten eingesiegelt war und nicht mehr die Macht besaß, denen zu Hilfe zu kommen, die er so lange beschützt hatte.
Er starrte geraume Zeit auf die Ruinen der Welt hinaus, und Verzweiflung nahm unnachgiebig Besitz von ihm. Erinnerungen spielten Verstecken in seinem Bewußtsein. Einst hatten die Druiden die Vier Länder beschützt. Aber die Druiden waren fort. Eine Handvoll von Nachfahren des Elfenhauses von Shannara waren über Generationen die Helden der Rassen gewesen und hatten die verbliebene Elfenmagie ausgeübt. Aber sie waren alle tot.
Er verdrängte seine Verzweiflung und ersetzte sie durch Hoffnung. Die Druiden konnten wiederkommen. Und es gab neue Generationen des alten Hauses von Shannara. Der König vom Silberfluß wußte fast alles, was sich in den Vier Ländern ereignete, auch wenn er nicht dorthin gehen konnte. Allanons Schatten hatte die Aussendung der Shannara-Kinder veranlaßt, um die verlorene Magie zurückzuerobern, und vielleicht würde es ihnen auch gelingen, falls sie lange genug überleben konnten, um Mittel und Wege zu finden, es zu tun. Aber alle waren größten Gefahren ausgesetzt. Alle waren vom Tode bedroht, im Osten, Süden und Westen von den Schattenwesen, im Norden von Uhl Belk, dem Steinkönig.
Er schloß für einen Moment die alten Augen. Er wußte, was für die Rettung der Shannara-Kinder vonnöten war – ein magischer Akt, einer von solcher Kraft und so ausgeklügelt, daß nichts seinen Erfolg vereiteln konnte, einer, der die Barrieren, die ihre Feinde geschaffen hatten, überwinden und durch den Schirm aus Täuschung und Lügen hindurchbrechen würde, der alles vor den Vieren verbarg, von denen so vieles abhing.
Ja, vier, nicht drei. Nicht einmal Allanon verstand die Gesamtheit dessen, was sein sollte.
Er wandte sich um und ging zurück in das Herz seines Refugiums. Er ließ sich vom Gesang der Vögel, dem Duft der Blumen und der warmen Luft streicheln, und seine Sinne sogen die Farben und Düfte und Gefühle all dessen, was ihn umgab, in sich auf. Es gab praktisch nichts, was er innerhalb seiner Gärten nicht zu tun vermochte. Doch seine Magie wurde draußen gebraucht. Er wußte, was not tat. Zur Vorbereitung nahm er die Gestalt des alten Mannes an, in der er sich gelegentlich der Welt jenseits zeigte. Sein Gang wurde ein unsicheres Wanken, sein Atem keuchend, seine Augen trüb, und sein ganzer Körper schmerzte mit dem Gefühl des dahinschwindenden Lebens. Das Vogelgezwitscher verstummte, und die kleinen Tiere in seiner Nähe hasteten eilig davon. Er zwang sich, sich von allem zu lösen, in das er sich entwickelt hatte, zu dem zurückzuschrumpfen, was er hätte werden können, weil er für einen Augenblick menschliche Sterblichkeit empfinden mußte, um zu wissen, wie er jenen Teil seines Selbst geben mußte, der gebraucht wurde.
Als er in das Herz seines Besitzes gelangte, blieb er stehen. Es gab einen Teich mit allerklarstem Wasser, der von einem kleinen Bächlein genährt wurde. Ein Einhorn trank daraus. Die Erde, die den Teich umgab, war dunkel und fruchtbar. Winzige, zarte Blümchen, die keinen Namen hatten, wuchsen am Wasser; sie hatten die Farbe von frischem Schnee. Ein kleiner, filigraner Baum wuchs aus einem Flecken von violettem Gras am anderen Ufer des Teichs, seine grünen Blätter waren mit Mustern wie aus roten Spitzen überzogen. In zwei gewaltigen Felsen glitzerten Streifen farbigen Erzes im Sonnenschein.
Der König vom Silberfluß stand reglos in der Gegenwart des Lebens, das ihn umgab, und er zwang sich, mit ihm eins zu werden. Als er das getan hatte, als sich alles durch die menschliche Gestalt, die er angenommen hatte, gesponnen hatte, als sei es aus Teilen und Stücken unsichtbarer Stickerei zusammengefügt, nahm er es in sich auf. Er hob die Hände, runzlige, menschliche Haut und zerbrechliche Knochen, und rief seine Magie, und das Gefühl von Alter und Zeit, Mahnung der sterblichen Existenz, verschwand.
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