Er schlief fast augenblicklich ein.
Während er schlief, ließ das Fieber nach, und er erholte sich von der Erschöpfung. Der Schmerz war noch da, doch irgendwie fern und nicht Teil von ihm. Er versank in der Wärme und Behaglichkeit seines Betts, und selbst Träume konnten den Schild seiner Rast nicht durchbrechen. Er hatte keine Visionen, die ihn peinigten, keine finsteren Gedanken, die ihn weckten. Allanon und Cogline waren vergessen. Seine Verzweiflung über den Verlust seines Arms, der Kampf, um dem Asphinx und der Halle der Könige zu entkommen, und das grauenvolle Gefühl, nicht länger Herr seines eigenen Schicksals zu sein – alles war vergessen. Er hatte Frieden.
Er wußte nicht, wie lange er schlief, denn ihm war nicht bewußt, wie die Zeit verstrich, wie die Sonne über den Himmel wanderte, wie es Nacht und Tag und wieder Nacht wurde. Als er langsam wieder aufwachte, aus der Dunkelheit seiner Rast durch eine Welt des Halbschlafs schwebte, rührten sich unerwarteterweise Erinnerungen an seine Kindheit, Fetzen seines Lebens aus den Tagen, als er lernte, mit der Enttäuschung und dem Staunen der Entdeckung zurechtzukommen, wer und was er war.
Die Erinnerungen waren klar und deutlich.
Er war noch ein Kind, als er zum ersten Mal erkannte, daß er Magie besaß. Er nannte es damals nicht Magie, er nannte es überhaupt nicht. Er hielt solche Fähigkeiten für alltäglich, dachte damals, er sei wie jedermann. Er lebte mit seinem Vater Kenner und seiner Mutter Risse in Hearthstone in Darklin Reach, und dort gab es keine anderen Kinder, mit denen er sich hätte vergleichen können. Das kam später. Seine Mutter war es, die ihm sagte, daß das, was er vermochte, ungewöhnlich war, daß es ihn von anderen Kindern unterschied. Er konnte ihr Gesicht noch immer sehen, als sie es ihm zu erklären versuchte, ihre zarten Züge ernst und konzentriert, ihre weiße Haut und ihr kohlschwarzes Haar, das sie immer zu Zöpfen geflochten trug und mit Blüten schmückte. Er konnte ihre leise, dringliche Stimme noch immer hören. Risse. Er hatte seine Mutter innig geliebt. Sie hatte selbst keine Magie besessen; sie war eine Boh, und die Magie kam von seiten seines Vaters, von den Ohmsfords. Sie hatte ihn an einem strahlenden Herbsttag, an dem die Luft von den Düften welkender Blätter und brennenden Holzes erfüllt war, vor sich hin gesetzt und hatte es ihm lächelnd und vorsichtig mitgeteilt, hatte erfolglos versucht, das Unbehagen, das sie darüber empfand, vor ihm zu verbergen.
Das war eines von den Dingen, die die Magie ihm erlaubte. Sie ließ ihn manchmal sehen, was andere fühlten – nicht bei jedem, aber fast immer bei seiner Mutter.
»Walker«, sagte sie, »die Magie macht dich zu etwas Besonderem. Sie ist eine Gabe, die du pflegen und hegen mußt. Ich weiß, daß du eines Tages etwas Wunderbares damit tun wirst.«
Ein Jahr später starb sie an einem Fieber, gegen das selbst sie mit ihren außerordentlichen Heilkräften kein Mittel hatte finden können.
Dann lebte er mit seinem Vater allein, und die »Gabe«, mit der sie ihn gesegnet geglaubt hatte, entwickelte sich schnell. Die Magie gab ihm Fähigkeiten, gab ihm Einblick. Er entdeckte, daß er oft Dinge in Leuten spürte, ohne daß man es ihm gesagt hätte – Wandel ihrer Stimmung und ihres Charakters, Emotionen, die sie geheimhalten zu können glaubten, Meinungen und Ideen, Nöte und Hoffnungen, sogar die Hintergründe ihrer Taten. Es gab immer Besuch in Hearthstone – Durchreisende, Hausierer, Händler, Holzfäller, Jäger, Trapper, sogar Fährtensucher –, und Walker wußte genau über sie Bescheid, selbst wenn sie kein Wort sagten. Er offenbarte ihnen, was er wußte, ein Spiel, das er schrecklich gerne spielte. Manche unter ihnen verängstigte es, und sein Vater befahl ihm, damit aufzuhören. Walker tat, wie ihm geheißen. Er hatte inzwischen eine neue, interessantere Fähigkeit entdeckt. Er stellte fest, daß er mit den Tieren des Waldes kommunizieren konnte, mit den Vögeln und den Fischen und selbst mit den Pflanzen. Er konnte spüren, was sie dachten und fühlten, genauso wie bei den Menschen, auch wenn ihre Gedanken und Gefühle begrenzter und rudimentärer waren. Stundenlang verschwand er zu Lernausflügen, zu vorgeschützten Abenteuern und Reisen zum Auskundschaften und Erproben. Er betrachtete sich in sehr jungen Jahren schon als Erforscher des Lebens.
Während die Zeit verstrich, wurde deutlich, daß Walkers besondere Einsicht ihm auch bei seiner Ausbildung zugute kommen würde. Er begann, in der Bibliothek seines Vaters zu lesen, sobald er gelernt hatte, wie die Buchstaben des Alphabets auf den abgenutzten Seiten von seines Vaters Büchern Wörter bildeten. Mühelos meisterte er die Mathematik. Die Naturwissenschaften verstand er intuitiv. Kaum irgend etwas mußte ihm erklärt werden. Irgendwie schien er einfach zu begreifen, wie das alles funktionierte. Geschichte wurde seine besondere Leidenschaft, seine Erinnerungsfähigkeit an Orte und Ereignisse und Leute war erstaunlich. Er begann, eigene Aufzeichnungen zu machen, alles, was er lernte, niederzuschreiben und Lehren zu kompilieren, die er eines Tages anderen weitergeben wollte.
Je älter er wurde, desto mehr schien sich die Haltung seines Vaters ihm gegenüber zu verändern. Zunächst wehrte er den Verdacht ab, überzeugt, daß er sich irrte. Doch das Gefühl blieb. Schließlich fragte er seinen Vater danach, und Kenner – ein großer, schlanker Mann mit flinken Bewegungen und großen, intelligenten Augen, einem Stotterproblem, das er mit harter Anstrengung überwunden hatte, und einer handwerklichen Begabung – gab zu, daß es stimmte. Kenner hatte selbst keine Magie. Er hatte in seiner Jugend Spuren davon gehabt, doch kurz nachdem er aus dem Jungenalter gewachsen war, waren sie verschwunden. So war es auch seinem Vater und dem Vater seines Vaters und allen Ohmsfords, von denen er Kenntnis hatte, bis zurück zu Brin gegangen. Doch bei Walker schien es nicht der Fall zu sein. Walkers Magie schien sogar immer stärker zu werden. Kenner sagte ihm, daß er fürchtete, die Fähigkeiten seines Sohnes würden ihn irgendwann überwältigen und sich zu einem Punkt entwickeln, wo er ihre Wirkung nicht mehr vorhersehen und kontrollieren könne. Doch er sagte gleichzeitig, daß sie nicht unterdrückt werden dürfe, daß Magie eine Gabe sei, deren Vorhandensein immer einen bestimmten Sinn habe.
Wenig später erzählte er Walker die Geschichte der Hintergründe der Ohmsfordmagie, von dem Druiden Allanon und dem Talmädchen Brin und von dem mysteriösen Vermächtnis, das er ihr im Sterben überantwortet hatte. Walker war zwölf Jahre alt, als er die Legende hörte. Er hatte wissen wollen, worin denn das Vermächtnis bestanden habe. Sein Vater hatte es ihm nicht sagen können. Er hatte ihm nur die Geschichte berichten können, wie es durch die Blutlinie der Ohmsfords weitergegeben wurde.
»Es manifestiert sich in dir, Walker«, sagte er. »Du deinerseits wirst es deinen Kindern weitergeben und sie den ihren, bis es eines Tages gebraucht wird. Das ist das Vermächtnis, das du geerbt hast.«
»Aber wozu taugt denn ein Vermächtnis, das keinem Zweck dient?« hatte Walker gefragt. Und Kenner hatte wiederholt: »Die Magie hat immer einen Sinn – selbst wenn wir nicht erkennen, worin er liegt.«
Knapp ein Jahr später, als Walker in seine Jugendjahre kam und seine Kindheit hinter sich ließ, offenbarte die Magie eine andere, dunkle Seite. Walker fand heraus, das sie zerstörerisch sein konnte. Manchmal, vor allem, wenn er wütend war, verwandelten sich seine Gefühle in Energie. Wenn das geschah, konnte er Dinge von der Stelle bewegen und zerbrechen, ohne sie zu berühren. Manchmal konnte er eine Art Feuer auslösen. Es war kein gewöhnliches Feuer, es brannte nicht wie gewöhnliches Feuer, und es hatte eine andere Farbe, eine Art Kobaltblau. Es wollte nicht viel von dem tun, was er versuchte, es tun zu lassen, es machte so ziemlich das, was es wollte. Er brauchte Wochen, um zu lernen, es zu kontrollieren. Er versuchte, seine Entdeckung vor seinem Vater zu verbergen, doch sein Vater erfuhr trotzdem davon, so wie er irgendwann alles über seinen Sohn herausfand. Auch wenn er wenig sagte, fühlte Walker, wie sich der Abstand zwischen ihnen vergrößerte.
Читать дальше