Morgan Leah war wie gelähmt. Er mußte Steff allein lassen und unverzüglich mit Padishar Creel sprechen. Wenn sein Verdacht in bezug auf Teel stimmte, mußte sie gefunden und aufgehalten werden.
Daß Teel möglicherweise der schlimmste ihrer Feinde war, der sie allesamt seit Culhaven verfolgt und so vollkommen getäuscht hatte, ganz besonders Steff, der davon überzeugt war, daß er ihr sein Leben verdankte, und der sie liebte – das Entsetzen, das von diesem Gedanken ausging, schnürte ihm die Kehle zu. Er wußte, daß dieses Entsetzen nicht von der bloßen Möglichkeit des Verrats herrührte, sondern von der Gewißheit.
Steff klammerte sich ängstlich an ihm fest. »Wo ist sie, Morgan? Du weißt es! Ich sehe es dir an!«
Morgan versuchte nicht sich loszumachen. Statt dessen sah er seinem Freund ins Gesicht und sagte: »Ich glaube, daß ich es weiß. Aber du mußt hier warten, Steff. Du mußt mich sie allein suchen lassen.«
»Nein.« Unwillig schüttelte Steff den Kopf. »Ich kom- me mit.« »Das kannst du nicht. Du bist zu schwach…« »Ich komme mit, Morgan! Sag mir, wo sie ist.« Der Zwerg wurde immer wieder von Fieberanfällen geschüttelt, aber Morgan wußte, daß er sich nur mit Gewalt aus dem Griff seines Freundes befreien konnte. »Also gut«, stimmte er zu.
Er stützte seinen Freund, und gemeinsam stapften sie in die Dunkelheit hinein. Er konnte Steff nicht allein zurücklassen, obwohl er wußte, daß sich die Dinge in seiner Gegenwart sehr viel schwieriger gestalten würden. Er würde einfach das tun, was er tun mußte, und zwar ungeachtet des Freundes. Plötzlich stolperte er und Steff mit ihm, weil sie die Rolle Tauwerk nicht gesehen hatten, die am Boden lag. Morgan erkannte jetzt erst, daß er sich noch nicht einmal die Zeit genommen hatte, seine Mutmaßung zu Ende zu denken. Teel war die Verräterin. Er mußte es akzeptieren. Steff konnte es zwar nicht, aber er hatte keine andere Wahl. Teel war diejenige…
Er dachte nicht weiter.
Nein. Nicht Teel. Nenn dieses Ding nicht Teel. Teel ist tot. Also nicht Teel. Das Schattenwesen, das sich in Teel versteckt.
Sein Atem ging immer schneller, als er mit Steff, der sich an ihm festhielt, durch die Nacht eilte. Das Schattenwesen mußte ihren Körper verlassen und Hirehones Gestalt angenommen haben, um Padishar Creels kleiner Truppe zu folgen und sie an die Föderation zu verraten. Dann hatte es Hirehones Körper verlassen, war zum Lager zurückgekehrt, hatte die Wachen getötet, um unbemerkt zu bleiben, und erneut von Teel Besitz ergriffen. Steff hatte überhaupt nicht mitbekommen, was geschehen war. Er hatte geglaubt, Teel sei vergiftet worden. Das Schattenwesen ließ ihn in dem Glauben. Es hatte es sogar fertiggebracht, den Verdacht auf Hirehone zu lenken, indem es ihm erzählt hatte, daß es ihm vor der Bewußtlosigkeit zum Rand der Anhöhe gefolgt sei. Er fragte sich, wie lange Teel schon ein Schattenwesen war. Schon sehr lange, entschied er. Er stellte sich ihren Körper als eine leere Hülle vor, und er knirschte mit den Zähnen ob dieser Vorstellung. Er erinnerte sich an Pars Bericht davon, wie das Schattenwesen auf dem Tofferkamm in Gestalt eines kleinen Mädchens versucht hatte, von ihm Besitz zu ergreifen. Er erinnerte sich an das Entsetzen und den Ekel, von dem der Talbewohner gesprochen hatte.
Es blieb keine Zeit mehr, über die Angelegenheit weiter nachzugrübeln. Sie näherten sich der großen Höhle. Der Eingang war von Fackeln erleuchtet. Dort stand Padishar Creel. Der Anführer der Geächteten war wach, wie Morgan gehofft hatte, und unterhielt sich in seinem leuchtend roten Gewand mit den Männern, die die Kranken und Verwundeten betreuten.
»Was tust du?« schrie Steff zornig. »Das ist eine Sache nur zwischen uns beiden, Morgan!«
Aber Morgan überging seine Proteste und zog ihn ins Licht. Als die beiden Männer auf ihn zustolperten, drehte Padishar Creel sich um und packte sie an den Schultern. »Langsam, langsam! Was habt ihr denn für einen Grund, so durch die Dunkelheit zu stürmen? Eure Augen verraten mir allerdings, daß euch etwas einen Schrecken eingejagt hat. Was ist passiert?«
Steff versteifte sich vor Zorn, und seine Augen waren hart. Morgan zögerte. Die Männer, die um Padishar Creel herumstanden, warfen ihnen neugierige Blicke zu; sie standen außerdem nahe genug, um zu hören, was er, Morgan, zu sagen hatte. Er lächelte sein entwaffnendes Lächeln. »Ich glaube, ich weiß jetzt, wer die Person ist, hinter der du her bist«, sagte er zu dem großen Mann.
»Nun, wenn’s weiter nichts ist.« Padishar Creels scherzhafte Worte waren ebenso an seine Männer gerichtet wie an Morgan und Steff. »Also dann, kommt kurz mit und erzählt mir davon.« Er legte den Arm um Steffs Schultern, als wäre alles in schönster Ordnung, und zog den Hochländer und den Zwerg in den Schatten. »Was hast du herausgefunden?« wollte er dort von Morgan wissen.
Morgan sah Steff an und schüttelte den Kopf. Sein Körper war unter seinen Kleidern jetzt schweißbedeckt, und sein Gesicht lief rot an. »Padishar«, sagte er, »Teel ist verschwunden. Steff weiß nicht, was mit ihr passiert ist. Ich glaube, daß sie möglicherweise in den Geheimgang gegangen ist.«
Er wartete, während seine Augen den großen Mann fixierten; im stillen hoffte er, der andere möge keine weitere Erklärung fordern. Er war sich immer noch nicht sicher, nicht absolut sicher, und Steff würde ihm in keinem Fall glauben.
Padishar Creel verstand. »Wir wollen nachschauen. Du und ich, Hochländer.«
Steff hielt Morgan am Arm fest. »Ich komme mit.« Sein Gesicht war schweißüberströmt und seine Augen glasig, aber an seiner Entschlossenheit bestand kein Zweifel.
»Du bist noch immer viel zu schwach, mein Junge.«
»Das ist meine Sache!«
Mit einem Ruck wandte Padishar Creel sein Gesicht zum Licht. Es war über und über mit Striemen und Schnittwunden bedeckt, die vom Kampf der vergangenen Nacht zeugten. »Auf keinen Fall meine«, sagte er leise. »Nur damit wir uns verstehen.«
Sie gingen in das Krankenrevier, wo Padishar Creel einen der Geächteten beiseite nahm und leise mit ihm redete. Morgan konnte gerade noch verstehen, was er sagte.
»Weck Chandos«, befahl Padishar Creel. »Sag ihm, er soll das Lager mobilisieren. Bereitet alles zum Aufbruch vor. Dann soll er mir in den Geheimgang nachkommen. Aber nicht allein. Sag ihm, daß die Geheimnistuerei ein Ende hat und daß es ganz egal ist, ob die anderen wissen, was er vorhat.«
Der Mann eilte davon, und Padishar Creel bedeutete Morgan und Steff, ihm zu folgen. Er führte sie durch die Haupthöhle zu der abgeschiedenen Stelle, wo die Vorräte aufbewahrt wurden. Er zündete drei Fackeln an, von denen er eine selbst behielt und die anderen beiden an den Hochländer und den Zwerg weitergab. Dann ging er voraus zu dem Raum, wo die Kisten an der Felswand lagerten, übergab Morgan seine Fackel, ergriff die Kisten mit beiden Händen und zog. Die Geheimtür ging auf und gab den dahinterliegenden Gang frei. Nachdem sie durch die Öffnung geschlüpft waren, zog Padishar Creel die Kisten wieder davor. »Bleibt dicht bei mir«, mahnte er.
Mit rauchenden Fackeln eilten sie in die Dunkelheit hinein. In den Gang hineinragende Stalaktiten wie Stalagmiten, bösartige steinerne Eiszapfen, machten den Weg gefährlich. Das von der Decke tropfende Wasser sammelte sich in kleinen Seen im Fels. In den Höhlen war es kalt, und die Kälte drang innerhalb kürzester Zeit durch Morgans Kleider. Er zitterte, während er hinter Padishar herging. Steff bildete die Nachhut; er schleppte sich mit unsicheren Schritten und keuchend hinter ihnen her.
Morgan fragte sich plötzlich, was sie tun würden, wenn sie auf Teel stießen. Im Geist überprüfte er seine Waffen. Er trug sein neu erworbenes Breitschwert auf dem Rücken, einen Dolch an seinem Gürtel und einen zweiten im Stiefelschaft. Um seine Taille hing die gekürzte Scheide, in der das, was vom Schwert von Leah übriggeblieben war, steckte.
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