Die gleiche Nachricht hatte Richard auch seinem Großvater zukommen lassen.
Er konnte kaum glauben, dass sein Freund Warren nicht mehr lebte. Der entsetzliche Schmerz, das wusste er, würde nur langsam abklingen.
Und Richard hatte noch etwas anderes nach Norden geschickt.
Nicci hatte ihm von Bruder Narevs Bedeutung für Jagang erzählt, von ihrer langen gemeinsamen Geschichte und von ihren gemeinsamen Visionen über die Zukunft der Menschheit. Im Frühjahr, wenn Jagang endlich im Triumph in den Palast der Konfessoren einzog, würde ihn dort, noch vor seinem sinnlosen Sieg, auf einer Lanze der Kopf seines Freundes und Ratgebers erwarten, gekrönt mit seiner geknifften Kappe.
Nicci hatte einen Bann um ihn herum geflochten, um ihn zu konservieren und Aasfresser fern zu halten. Richard wollte sichergehen, dass Jagang, wenn er ihn schließlich erblickte, keinem Irrtum bezüglich seiner Identität erlag.
In die übervolle Stadt Altur’Rang hatte wieder Frieden Einzug gehalten, und mit ihm die Freiheit. Das Leben war zurückgekehrt. Die Menschen hatten begonnen, neue Geschäfte zu eröffnen. Bereits innerhalb weniger Wochen war eine Vielfalt von Brotsorten erhältlich. Tag für Tag nahmen neue Unternehmen ihren Betrieb auf. Ishaq verdiente sich mit dem Transport von Gütern ein Vermögen, hatte aber bereits Konkurrenten, die mit ihm um Aufträge wetteiferten. Nabbi hatte bei ihm Arbeit gefunden.
Faval, der Köhler, hatte Ishaq gebeten, er möge Richard bitten, ihn zu besuchen und mit ihm und seiner Familie zu Abend zu speisen. Faval hatte einen Karren angeschafft, und seine Söhne lieferten nun Holzkohle aus.
Die Unterarme auf das Geländer am Ende des Piers gestützt, blickte Richard über den Rand hinunter in das strudelnde Wasser, so als versuchte er zu ergründen, was die Zukunft bergen mochte.
Die in den Fluss hineinreichenden Landungsbrücken, der Steg auf ihnen sowie der Vorplatz waren ungefähr alles, was von dem Palast geblieben war. Richard hatte veranlasst, die Bannformen überall auf dem Gelände von den Säulen zu entfernen, und sie von Priska einschmelzen lassen.
Richard hatte weitgehend wieder zu seiner alten Stärke zurückgefunden. Kahlan war stark und ebenso schön wie in seiner Erinnerung, aber sie hatte sich verändert. In dem einen Jahr, das sie getrennt gewesen waren, war sie reifer im Gesicht geworden. Wenn er sie ansah, spürte er das Verlangen nach einem Stück Marmor und Meißeln, um ihr Gesicht in Stein wiedergeben zu können.
Fleisch, in Stein wiedergegeben.
Er wandte sich herum und schaute den Pier entlang zurück zum Vorplatz mit dem dahinter liegenden Halbrund aus Säulen. Die umgestürzte Säule war wieder aufgerichtet worden; den Vorplatz hatte man in ›Platz der Freiheit‹ umbenannt; es war Victors Idee gewesen. Richard hatte ihn gefragt, ob er nicht besser ›Sternplatz der Freiheit‹ hieße, da dieser Begriff eher an einen runden Platz erinnere als der Oberbegriff ›Platz‹. Victor fand, einfach ›Platz der Freiheit‹ klinge besser, und so hatte Richard ihn offiziell getauft. Schließlich war Victor der Erste gewesen, der sich dort zum freien Menschen erklärt hatte.
Kahlan schaute mit ihm zurück zum Vorplatz.
»Was denkst du?«, fragte Richard sie.
Sie schüttelte den Kopf und wirkte höchstens ein wenig so, als wäre ihr unbehaglich zumute. »Ich weiß nicht, Richard. Die Vorstellung, sie … so groß zu sehen, erscheint mir seltsam. Und so … weiß.«
»Gefällt sie dir nicht?«
Sie legte ihm rasch eine Hand auf den Arm, um diesen Eindruck zu zerstreuen. »Nein, das ist es nicht, es ist einfach, dass sie dann so…« – ihr unsicherer Blick richtete sich wieder auf den Pier – »übergroß sein wird.«
In der Mitte des Vorplatzes, wo für kurze Zeit die von Richard erschaffene Statue gestanden hatte, erhob sich jetzt eine hohe Marmorstatue, an der mehrere Bildhauer arbeiteten, die früher auf der Baustelle damit beschäftigt gewesen waren, Elend und Tod in Stein zu schlagen. Kamil war ebenfalls dort unten und erlernte das Handwerk der Bildhauerei von Meistern; begonnen hatte er seine Ausbildung mit einem Besen in der Hand.
Richard hatte die Bildhauer persönlich eingestellt. Mit dem kleinen Vermögen, das er sich verdient hatte, als er dem Orden beim Errichten des Palastes half, konnte er sich das ohne Weiteres leisten. Die Bildhauer waren froh über diese Arbeit – endlich konnten sie für ihren Lohn einen Gegenwert schaffen.
Die Meisterbildhauer arbeiteten an der maßstabgetreuen Vergrößerung jener kleine Statuette mit dem Titel Seele , die Richard für Kahlan in ihrem Heim in den Bergen angefertigt hatte, als sie so dringend den Anblick von Lebendigkeit, Tapferkeit und unbezwingbarem Lebensmut gebraucht hatte. Jetzt entstand sie ein zweites Mal – aus feinstem Cavaturamarmor.
Der Bronzering der Sonnenuhr hatte unbeschädigt überlebt und sollte dem Werk beigefügt werden. Die sich in der Mitte erhebende Statue würde ihren Schatten auf das geschwungene Zifferblatt werfen; die Worte, die so viele an jenem Tag berührt hatten, würden jetzt für alle sichtbar sein.
Kahlan war von der Idee begeistert gewesen, aber sie hatte so viele Monate mit der Schnitzerei, die Richard angefertigt hatte, zugebracht, dass es für sie verwirrend war, sie in dieser monumentalen Größe vor sich zu sehen. Sie konnte kaum den Tag erwarten, da die Bildhauer mit der maßstabgetreuen Vergrößerung fertig sein und sie ihre Seele zurückbekommen würde.
»Ich hoffe, es macht dir nichts aus, sie mit aller Welt zu teilen«, sagte er.
Kahlan lächelte versonnen. »Aber nein, überhaupt nicht.«
»Alle sind ganz begeistert von ihr«, versicherte er ihr.
Ihr wundervolles fröhliches Lachen wurde von der warmen nachmittäglichen Luft davongetragen. »Nur werde ich mich wohl daran gewöhnen müssen, mich mit Leib und Seele in aller Öffentlichkeit zur Schau zu stellen.«
Gemeinsam sahen sie zu, wie die an den fließenden Gewändern arbeitenden Bildhauer ihr Werk mit Hilfe von Greifzirkeln mit der von Richard geschnitzten Statuette und den Bezugspunkten auf den für die Vergrößerung benutzten hölzernen Verstrebungen verglichen.
Kahlan streichelte ihm den Rücken. »Wie fühlst du dich?«
»Ausgezeichnet. Jetzt, da du bei mir bist, könnte es mir nicht besser gehen.«
Kahlan lachte. »Solange ich dich nicht mit einem Schwert durchbohre?«
Richard stimmte ganz ungezwungen in ihr Lachen ein. »Weißt du, wenn wir unseren Kindern erzählen, wie ihre Mutter ihren Vater mit einem Schwert durchbohrte, wird das ein ziemlich schlechtes Licht auf dich werfen.«
»Werden wir Kinder haben, Richard?«
»Ja, das werden wir.«
»Dann werde ich es riskieren, die Geschichte zu erzählen.«
Als die warme Brise ihr Haar zauste, gab er ihr einen Kuss auf die Stirn.
Richard blickte an der Baumreihe entlang, deren Blätter im Sonnenschein flimmerten, und beobachtete die Vögel, die über dem Flussufer ihre Kapriolen schlugen, sich zu einer Schar zusammenfanden, um schließlich gemeinsam in großer Höhe über das Halbrund aus Marmorsäulen auf der weiten grünen Rasenfläche hinwegzusegeln.
Zufrieden lehnte Kahlan sich an seine Schulter, während sie den Handwerkern zusahen, die, erfüllt von Stolz, frohen Mutes an der Statue arbeiteten, die vor diesen Säulen entstehen sollte.
Altur’Rang würde eine neue Seele bekommen.
Im ehemaligen Herz des Ordens war jetzt endlich die Freiheit eingezogen.