Sie zwang sich, ihm in seine dunklen, eingefallenen Augen zu blicken, die aus aufgedunsenen Schlitzen hervorlugten. »Wo ist Richard?«, verlangte sie in gleichmütigem Ton zu wissen.
»Der tanzt mit den Seelen in der Unterwelt.« Er neigte den Kopf zur Seite. »Wo ist dieses blonde Weibstück? Die, von der meine Freunde sagen, sie hätten sie früher schon mal gesehen. Die mit dem frechen Mundwerk. Die, der die Zunge ein Stück kürzer gemacht gehört, bevor ich ihr das Gedärm rausreiße.«
Kahlan funkelte ihn an, um ihm zu zeigen, dass sie nicht die geringste Absicht hatte, ihm zu antworten. Als das grobschlächtige Messer näher kam, schlug ihr sein Gestank entgegen.
»Du bist bestimmt Tommy Lancaster.«
Das Messer hielt inne. »Woher weißt du das?«
Wut quoll tief aus ihrem Innern empor. »Richard hat mir von dir erzählt.«
Die Augen funkelten bedrohlich; sein Grinsen wurde breiter. »Ach ja? Was hat er denn erzählt?«
»Dass du ein hässliches, zahnloses Schwein bist, das sich jedes Mal beim Grinsen in die Hosen macht. Dem Geruch nach hatte er damit Recht.«
Das verschlagene Feixen ging in ein Stirnrunzeln über. Er richtete sich auf dem Tritt stehend auf und beugte sich mitsamt Messer in den Wagen. Genau darauf hatte Kahlan gewartet – er sollte so nahe kommen, dass sie ihn berühren konnte.
Mit Hilfe der aus einem ganzen Leben voller Erfahrung gewonnenen Disziplin legte sie ihre Verärgerung ab und machte sich die Ruhe einer Konfessor zu eigen, die sich einer bestimmten Handlungsweise ganz verschrieben hat. Hatte eine Konfessor einmal den Entschluss gefasst, ihre Kraft zu entfesseln, schien sich das Wesen der Zeit selbst zu verändern.
Sie brauchte ihn nur zu berühren.
Die Kraft einer Konfessor war zum Teil von ihrer körperlichen Verfassung abhängig. Sie wusste nicht, ob sie in ihrem verletzten Zustand fähig sein würde, die erforderliche Kraft aufzubringen, und wenn, ob sie deren Entfesselung überleben würde, sie wusste nur eins, sie hatte keine Wahl. Einer von ihnen würde in Kürze sterben. Vielleicht beide.
Er stützte sich mit dem Ellbogen auf der Seitenstange ab. Die Hand mit dem Messer hielt auf ihre entblößte Kehle zu. Statt das Messer im Auge zu behalten, beobachtete Kahlan die winzigen Narben, die seine Knöchel mit einem Geflecht aus staubigen, weißen Fäden überzogen. Als seine Faust nahe genug war, machte sie ihre entscheidende Bewegung und wollte nach seinem Handgelenk greifen.
Völlig überraschend stellte sie fest, dass sie fest in die blaue Decke gehüllt war. Sie hatte nicht mitbekommen, dass Richard sie auf die von ihm angefertigte Trage gelegt hatte. Man hatte die Decke um sie gewickelt und unter den Stangen der Trage festgesteckt, um sie so ruhig wie möglich zu halten und zu verhindern, dass sie sich verletzte, wenn der Wagen fuhr. Ihr Arm war in einem Stück Stoff gefangen, das ihr Leichentuch zu werden drohte.
Heiße Panik loderte auf, als sie sich bemühte, ihren rechten Arm frei zu bekommen. Sie lieferte sich einen verzweifelten Wettlauf mit der Klinge, die auf ihre Kehle zuhielt. Messergleich bohrte sich der Schmerz in ihre gebrochenen Rippen, während sie mit der Decke rang. Sie hatte keine Zeit zu schreien oder verzweifelt darüber zu fluchen, dass sie versehentlich in der Falle saß. Ihre Finger bekamen eine Stofffalte zu fassen, daran zerrte sie, um ein loses Stück unter der Trage, auf der sie lang, hervorzuziehen und ihren Arm befreien zu können.
Kahlan brauchte ihn nur zu berühren, aber genau das war ihr verwehrt! Sein Messer würde der einzige Berührungspunkt zwischen ihnen sein. Sie konnte nur darauf hoffen, dass er sie mit den Knöcheln streifte oder er ihr, wenn er ansetzte, um ihr die Kehle aufzuschlitzen, vielleicht so nahe kam, dass sie ihr Kinn gegen seine Hand pressen konnte. Dann konnte sie ihre Kraft entfesseln, falls sie noch lebte – und er nicht gleich zu Anfang zu tief schnitt.
Die Zeit schien sich zur Ewigkeit zu dehnen, während sie sich wand und an der Decke zerrte, sie seine über ihrem entblößten Hals schwebende Hand beobachtete, sie bange darauf wartete, endlich ihre Kraft freisetzen zu können – und sie noch immer lebte. Dabei wusste sie, dass sie den schlitzenden Schnitt der derben Klinge jetzt jeden Augenblick spüren würde.
Es kam völlig anders als erwartet.
Tommy Lancaster wurde unter einem ohrenbetäubenden Kreischen zurückgerissen. Schlagartig kehrte die Welt rings um Kahlan in einem Tumult aus Geräusch und Bewegung zurück, als sie unvermittelt von ihrer Absicht Abstand nahm. Hinter seinem Rücken hatte sie Cara erblickt, die Zähne wild entschlossen zusammengebissen. In ihrem makellosen Rot glich sie einem kostbaren Rubin hinter einem Klumpen Dreck.
Den Rücken krümmend, in den man ihm den Strafer presste, konnte Tommy Lancaster noch weniger darauf hoffen, sich von Cara loszureißen, als hätte sie ihn mit einem Fleischerhaken aufgespießt. Seine Qualen hätten nicht grausamer, seine Schreie nicht quälender sein können.
Während er auf die Knie sank, schob sich Caras Strafer langsam hoch und seitlich um seinen Brustkorb. Jede Rippe, die der Strafer überquerte, brach mit dem scharfen Knacken eines brechenden Astes. Ein kräftiges Rot, ihrem Leder ebenbürtig, sickerte zwischen seinen Knöcheln hervor und lief an seinen Fingern hinab, das Messer fiel klirrend auf den steinigen Boden. Der dunkle Fleck an der Seite seines Hemdes schwoll immer mehr an, bis das Blut von den heraushängenden Schößen tropfte.
Cara, ganz erbarmungslose Vollstreckerin, sah über ihm stehend zu, wie er um Gnade bettelte. Statt sie zu gewähren, presste sie den Strafer gegen seinen Hals und folgte ihm bis hinunter auf den Boden. Seine Augen waren aufgerissen und rundum weiß, als er qualvoll erstickte.
Es war eine langsame, schmerzensreiche Reise in den Tod. Tommy Lancasters Arme und Beine krümmten sich, als er in seinem eigenen Blut zu ertrinken begann. Cara hätte ihm ein rasches Ende bereiten können, doch sah es nicht so aus, als hätte sie die Absicht, das zu tun. Dieser Mann hatte Kahlan töten wollen, und für dieses Verbrechen plante Cara, einen hohen Tribut zu fordern.
»Cara!« Kahlan war überrascht, dass sie so viel Energie in ihren Ruf legen konnte. Cara sah über ihre Schulter. Tommy Lancasters Hände gingen zu seinem Hals, und er schnappte keuchend nach Luft, als sie sich aufrichtete und über ihn stellte. »Lasst gut sein, Cara. Wo ist Richard? Vielleicht braucht er unsere Hilfe.«
Cara beugte sich über Tommy Lancaster, presste ihm den Strafer auf die Brust und drehte. Sein linkes Bein trat einmal aus, seine Arme fielen schlaff zur Seite, dann rührte er sich nicht mehr.
Bevor Cara oder Kahlan ein Wort hervorbringen konnten, kam Richard, das Gesicht in kaltem Zorn erstarrt, auf den Wagen zugesprintet. Er hatte sein Schwert zur Hand, dessen Klinge dunkel und feucht schimmerte.
Kaum hatte Kahlan sein Schwert erblickt, begriff sie, was sie geweckt hatte. Das Geräusch war das Schwert der Wahrheit gewesen, das seine Ankunft in der Abendluft verkündete. Im Schlaf hatte ihr Unterbewusstsein das einzigartige Klirren von Stahl wiedererkannt, das das Schwert der Wahrheit beim Gezogenwerden erzeugte, und instinktiv hatte sie die Gefahr erfasst, die dieses Geräusch bedeutete.
Richard würdigte den leblosen Körper zu Caras Füßen nur eines flüchtigen Blicks.
»Alles in Ordnung mit dir?«
Kahlan nickte. »Es geht mir gut.« Verspätet, und doch mit einem Gefühl des Triumphes ob ihrer Leistung, zog sie ihren Arm unter der Decke hervor.
Richard wandte sich zu Cara. »Ist sonst noch jemand die Straße heraufgekommen?«
»Nein. Nur dieser eine hier.« Sie deutete mit ihrem Strafer auf das am Boden liegende Messer. »Er wollte der Mutter Konfessor die Kehle durchschneiden.«
Wäre Tommy Lancaster nicht bereits tot gewesen, Richards zornerfüllter Blick hätte ihm den Rest gegeben. »Ich hoffe, Ihr habt es ihm nicht leicht gemacht.«
Читать дальше