Hin und wieder wanderten seine Gedanken zu der verlorenen Magie des Schwerts von Leah. Er trug noch immer die Reste der zersplitterten Klinge in der Behelfsscheide, die er dafür hergestellt und um die Taille gebunden hatte. Er dachte an die Kraft, die es ihm gegeben hatte, und daran, wie er sich nach dem Fehlen dieser Kraft fühlte – so, als könne er niemals mehr vollständig sein ohne sie. Doch ein kleiner Teil der Magie lebte in der Waffe noch fort; es war ihm gelungen, sie in den Katakomben des Jut wiederzubeleben, als er Teel vernichtete. Es hatte gerade ausgereicht, sein Leben zu retten.
Tief in seinem Inneren, wo er es verbergen konnte und die Unwahrscheinlichkeit nicht zugeben mußte, hegte er den Glauben, daß eines Tages die Magie des Schwertes von Leah wieder die seine wäre.
Es war später Nachmittag des dritten Reisetages, als er aus den Wäldern des Anar tauchte und Culhaven erreichte. Das Zwergendorf war schäbig und verkommen, Refugium jener nun, die entweder zu alt oder noch zu jung waren, um von den Föderationsautoritäten geholt und in die Bergwerke gebracht oder auf dem Markt als Sklaven verkauft zu werden. Culhaven hatte einst zu den gepflegtesten Gemeinden gehört und war jetzt nur noch eine verfallene Ansammlung von Gebäuden und Leuten, die wenig Zeichen von Pflege und Liebe aufwiesen. Der Wald wuchs direkt bis an die äußersten Gebäude heran, Unkraut überwucherte die Gärten, die Straßen verrotteten und erstickten unter Gestrüpp. Holzwände verfaulten unter abblätternder Farbe, Ziegel und Schindeln waren zersprungen und gesplittert, und Blenden um Fenster und Türen hingen schief in den Angeln. Augen lugten aus den Schatten und verfolgten den Hochländer, als er den Ort betrat. Er konnte fühlen, wie die Leute ihn hinter Fenstern und Türen verborgen anstarrten. Die wenigen Zwerge, denen er begegnete, wichen seinem Blick aus und wandten sich hastig ab. Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, ging er weiter, und sein Zorn entzündete sich erneut bei dem Gedanken, was man diesen Leuten angetan hatte. Alles bis auf ihr nacktes Leben war ihnen genommen, und ihr Leben selbst war nichtig geworden.
Er erwog noch einmal, wie Par Ohmsford es getan hatte, als sie das letzte Mal hier gewesen waren, was damit bezweckt werden sollte.
Er hielt sich von den Hauptstraßen fern und nahm nur die Nebenpfade, nicht erpicht darauf, irgendwelche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er war Südländer und daher frei, im Ostland zu kommen und zu gehen, wie und wohin ihm beliebte, doch er identifizierte sich in keiner Weise mit der Föderationsbesatzung und zog es vor, ihnen überhaupt fernzubleiben. Selbst wenn nichts von dem, was den Zwergen zugestoßen war, auf seine Kappe ging, schämte er sich über das, was er in Culhaven sah, erneut für das, was und wer er war. Eine Förderationspatrouille kam an ihm vorbei, und die Soldaten nickten ihm freundlich zu. Er konnte nichts anderes tun, als zurückzunicken.
Als er sich dem Waisenhaus näherte, steigerte die Erwartung dessen, was er dort vorfinden würde, seine Wahrnehmungen. Besorgnis stritt mit Zuversicht. Und wenn er zu spät kam? Er schob diese Möglichkeit beiseite. Es gab keinen Grund anzunehmen, daß es so sei. Teel würde es nicht riskiert haben, ihre Verkleidung aufs Spiel zu setzen, indem sie überstürzt handelte. Sie würde mit großer Wahrscheinlichkeit abwarten, bis sie sicher sein konnte, daß es keine Rolle mehr spielte.
Die Schatten wurden länger, und die Sonne verschwand hinter den Bäumen im Westen. Die Luft kühlte ab, und der Schweiß auf Morgans Rücken trocknete unter dem Kittel. Die Tagesgeräusche verwandelten sich in erwartungsvolles Schweigen. Morgan schaute auf seine Hände, fixierte seinen Blick auf das unregelmäßige Muster weißer Narben, die im Zickzack seine gebräunte Haut zeichneten. Kampfwunden hatte er seit Tyrsis und Jut am ganzen Leib. Er biß die Zähne zusammen. Kleinigkeiten, dachte er. Die in seinem Inneren gingen tiefer.
Er erhaschte einen Blick auf ein Zwergenkind, das ihn aus dem Schutz einer niedrigen Steinmauer mit intensiven, schwarzen Augen anschaute. Das Kind war mager und zerlumpt. Seine Augen verfolgten ihn eine Weile und verschwanden dann.
Morgan eilte, plötzlich wieder beunruhigt, schnell weiter. Er sah das Dach des Waisenhauses auftauchen, die erste der Mauern, ein Fenster ganz oben, eine Dachluke. Er bog um eine Kurve in der Zufahrt und wurde langsamer. Er wußte im gleichen Augenblick, daß etwas nicht stimmte. Der Garten des Waisenhauses war leer. Das Gras war nicht gemäht. Es gab keine Spielsachen und keine Kinder. Er kämpfte gegen die Panik an, die ihn zu übermannen drohte. Die Fenster des alten Gebäudes waren dunkel. Nirgendwo war ein Zeichen von irgendwem.
Er erreichte das Tor zum Vorgarten und blieb stehen. Alles war still.
Er hatte sich geirrt. Er kam doch zu spät.
Er tat einen Schritt und blieb wieder stehen. Sein Blick wanderte über das finstere alte Haus, und er fragte sich, ob er vielleicht in irgendeine Art Falle tappen würde. Lange Zeit stand er da und beobachtete. Aber er entdeckte keinerlei Lebenszeichen. Und es gab keinen Grund anzunehmen, daß irgendwer ihn hier erwarten würde, entschied er.
Er ging durch das Tor, stieg die Eingangsstufen hinauf und stieß die Haustüre auf. Drinnen war es dunkel, und er wartete, bis seine Augen sich angepaßt hatten. Dann trat er ein. Langsam ging er durch das ganze Haus, suchte jedes Zimmer eins nach dem anderen ab und kam wieder heraus. Alles war mit Staub überzogen. Es war geraume Zeit her, seit hier jemand gewohnt hatte. Jedenfalls lebte jetzt niemand mehr hier.
Was war dann aus den beiden alten Zwergendamen geworden?
Er setzte sich auf die Eingangsstufen und ließ seine große Gestalt gegen das Geländer sacken. Die Föderation hatte sie. Es gab keine andere Erklärung. Elise und Jilt hätten ihr Heim niemals verlassen, es sei denn, sie wären dazu gezwungen worden. Und sie würden niemals die Kinder im Stich lassen, die in ihrer Obhut standen. Außerdem waren alle ihre Kleider noch in den Truhen und Schränken, die Kinderspielsachen, das Bettzeug, alles. Er hatte es bei seiner Suche gesehen. Das Haus war nicht verschlossen worden, wie es sich gehörte. Viel zuviel war in Unordnung. Nichts war so, wie es wäre, wenn die beiden alten Damen eine Wahl gehabt hätten.
Bitterkeit erfüllte ihn. Steff hatte sich auf ihn verlassen; er konnte jetzt nicht aufgeben. Er mußte Elise und Jilt finden. Aber wo? Und wer in Culhaven konnte ihm sagen, was er wissen mußte? Niemand wußte etwas, vermutete er. Die Zwerge würden ihm gewiß nicht trauen – nicht einem Südländer. Er konnte fragen, bis die Sonne im Osten auf und im Westen wieder unterging.
Lange Zeit saß er so da und dachte nach, und es begann zu dämmern. Nach einer Weile wurde ihm bewußt, daß ein kleines Kind ihn vom Eingangstor her beobachtete, dasselbe, das ihn oben an der Straße angestarrt hatte. Schließlich fragte er: »Kannst du mir sagen, was aus den beiden alten Damen geworden ist, die hier gewohnt haben?«
Der Junge verschwand auf der Stelle. Er war so schnell verschwunden, daß es aussah, als sei er vom Erdboden verschluckt worden. Morgan seufzte. Das war zu erwarten gewesen. Er streckte seine Beine. Er würde die Informationen, die er brauchte, von den Föderationsautoritäten herausbekommen müssen. Das war gefährlich, besonders, falls Teel ihnen nicht nur von Elise und Jilt, sondern auch von ihm berichtet hatte – und es bestand kein Grund zu der Annahme, daß sie das unterlassen hätte. Sie mußte die alten Damen verraten haben, noch ehe die Gruppe die Reise nordwärts nach Darklin Reach angetreten hatte. Die Föderation mußte Elise und Jilt abgeholt haben, sobald Teel das Dorf verlassen hatte. Teel hatte sich keine Sorgen darüber gemacht, daß Steff oder Morgan oder die Talbewohner es erfahren würden. Schließlich sollten sie alle tot sein, ehe es bedeutsam wurde.
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