Morgan stellte die beiden Greisinnen sanft auf die Füße. »Hört genau zu«, sagte er leise. »Wir haben wenig Zeit. Ich habe den Wachkapitän ausgetrickst, so daß er euch in meine Obhut entläßt, aber er kann mir auf die Schliche kommen, wenn wir ihm die Gelegenheit dazu geben, also müssen wir uns sputen. Gibt es einen Ort, wo ihr euch verstecken könnt? Wo man euch nicht findet?«
Jilt nickte mit entschlossener Miene. »Der Widerstand wird uns verstecken. Wir haben noch immer Freunde.«
»Morgan, wo ist Steff?« unterbrach Elise.
Der Hochländer zwang sich, ihrem fragenden Blick standzuhalten. »Es tut mir leid, Elise. Steff ist tot. Er wurde im Kampf gegen die Föderation in den Drachenzähnen getötet.« Er sah den Schmerz in ihren Augen. »Teel ist ebenfalls tot. Sie war es, die Steff getötet hat. Sie war leider nicht, was wir alle angenommen hatten. Sie war ein Schattenwesen, ein Geschöpf finsterer Magie, das mit der Föderation im Bunde stand. Sie hat auch euch verraten.«
»Oh, Steff«, flüsterte Elise geistesabwesend. Sie weinte wieder.
»Die Soldaten haben uns gleich nach eurer Abreise geholt«, berichtete Jilt zornig. »Sie haben die Kinder fortgebracht und uns in diesen Käfig gesperrt. Ich wußte, daß irgend etwas schiefgegangen war. Ich dachte, sie hätten euch ebenfalls erwischt. Verdammt, Morgan, dieses Mädchen war wie eine von uns!«
»Ich weiß, Jilt«, erwiderte er in Erinnerung daran, wie es gewesen war. »Es ist schwierig geworden zu erkennen, wem man trauen kann. Wie ist es mit den Zwergen, bei denen ihr euch verstecken wollt? Sind sie vertrauenswürdig? Seid ihr sicher, daß ihr dort in Sicherheit seid?«
»Einigermaßen« erwiderte Jilt. »Hör auf zu weinen, Elise«, sagte sie und tätschelte liebevoll die Hand der anderen. »Wir müssen tun, was Morgan gesagt hat, und sehen, daß wir von hier fortkommen, solange wir die Gelegenheit dazu haben.«
Elise nickte und wischte sich die Tränen ab. Morgan richtete sich wieder auf und strich den beiden über das graue Haar. »Denkt dran, ihr kennt mich nicht. Ihr steht nur unter meiner Verantwortung, bis wir von hier fort sind. Und wenn irgend etwas schiefgeht und wir getrennt werden, geht an einen sicheren Ort. Ich habe Steff das Versprechen gegeben, daß ich dafür sorgen würde. Sorgt also dafür, daß ich mein Versprechen nicht breche, ja?«
»In Ordnung, Morgan«, sagte Elise.
Dann gingen sie hinaus, Morgan voran und die beiden Greisinnen hinter ihm her. Der Adjutant stand starr allein auf einer Seite, und die Wachen sahen gelangweilt aus. Mit den Zwergenfrauen im Schlepp kehrten Morgan und der Adjutant zum Verwaltungszentrum zurück. Der Wachkapitän erwartete sie ungeduldig, die versprochenen Entlassungspapiere in der Hand. Er reichte sie Morgan über den Empfangstresen hinweg zur Unterschrift, schob sie dann dem Adjutanten zu und stakste in sein Büro zurück. Der Adjutant schaute Morgan unbehaglich an.
Morgan gratulierte sich im stillen für seinen Erfolg. »Major Assomal wird schon warten«, sagte er.
Er wandte sich um und war gerade dabei, Elise und Jilt nach draußen zu bugsieren, als die Tür direkt vor ihrer Nase aufging und ein neuer Föderationsoffizier auftauchte. Dieser hier trug die gekreuzten Streifen eines Divisionskommandanten.
»Kommandant Soldt!« Der Adjutant sprang auf die Füße und salutierte zackig.
Morgan erstarrte. Kommandant Soldt war mit der Überwachung der inhaftierten Zwerge beauftragt, der höchstrangige Offizier der ganzen Garnison. Was er um diese Zeit im Zentrum zu suchen hatte, stand jedem frei, sich auszudenken, aber es bedeutete jedenfalls für die Durchführung von Morgans Plan nichts Gutes.
Der Hochländer salutierte.
»Was soll das alles?« fragte Soldt mit einem Seitenblick auf Elise und Jilt. »Was haben die hier außerhalb ihrer Quartiere zu suchen?«
»Nur ein Auslieferungsantrag, Kommandant«, erwiderte der Adjutant. »Von Major Assomal.«
»Assomal?« Soldt runzelte die Stirn. »Er ist im Feld. Was will er dort mit Zwergen …« Er schaute zu Morgan. »Ich kenne Sie nicht, Soldat. Zeigen Sie mir Ihre Papiere.«
Morgan schlug so kräftig zu, wie er konnte. Soldt stürzte und blieb reglos liegen. Morgan stürmte augenblicklich auf den Adjutanten zu, der schreiend zurückwich. Morgan erwischte ihn und rammte seinen Schädel gegen das Pult. Der Wachkapitän erschien im richtigen Moment, um ein paar schnelle Schläge ins Gesicht zu erhalten. Er taumelte in sein Büro zurück und ging zu Boden.
»Raus hier!« flüsterte Morgan Elise und Jilt zu.
Sie rannten aus dem Verwaltungszentrum in die Nacht hinaus. Morgan schaute schnell um sich und atmete erleichtert auf. Die Wachen waren noch immer auf ihren Posten. Niemand hatte den Kampf gehört. Er führte die alten Damen schnell die Straße hinunter von den Arbeitshäusern fort. Eine Patrouille tauchte vor ihnen auf. Morgan verlangsamte seine Schritte und ging mit ehrfurchtgebietender Haltung vor seinen Schützlingen her. Die Patrouille bog ab, ehe sie sie erreichten, und verschwand in der Dunkelheit.
Dann begann jemand hinter ihnen um Hilfe zu rufen. Morgan zerrte die alten Damen in eine Seitengasse und scheuchte sie bis zum anderen Ende. Die Rufe vervielfältigten sich jetzt, und man hörte rennende Schritte. Pfeifen schrillten, und eine Sirene heulte auf.
»Gleich haben wir sie alle auf dem Hals«, murmelte Morgan vor sich hin.
Sie gelangten an die nächste Querstraße und bogen ein. Das Geschrei war auf allen Seiten um sie herum. Er zog die alten Damen in einen dämmrigen Hauseingang und wartete. An beiden Enden der Straße tauchten Soldaten auf und suchten nach ihnen. Morgans Rettungspläne waren zunichte. Er ballte die Hände zu Fäusten. Was auch immer passierte, er konnte nicht zulassen, daß die Föderation Elise und Jilt wieder einfing.
Er beugte sich zu ihnen hinunter. »Ich muß sie weglocken«, flüsterte er dringlich. »Bleibt hier, bis sie hinter mir her sind, dann rennt los. Sobald ihr euch versteckt habt, bleibt dort – egal was passiert.«
»Morgan, und du?« Elise packte seinen Arm.
»Macht euch um mich keine Sorgen. Tut nur, was ich euch gesagt habe. Kommt nicht nach mir suchen. Ich werde euch finden, wenn diese ganze Angelegenheit überstanden ist. Auf Wiedersehen, Elise. Auf Wiedersehen, Jilt.«
Er ignorierte ihr Flehen, er solle bleiben, umarmte und küßte sie hastig und stürmte auf die Straße hinaus. Er rannte, bis er den ersten Suchtrupp sah, und schrie ihnen zu: »Da drüben sind sie!«
Die Soldaten kamen hinter ihm hergerannt, als er in eine Seitenstraße einbog und sie von Elise und Jilt wegführte. Er riß das Breitschwert, das er auf den Rücken geschnallt trug, aus seiner Scheide. Als er die Seitenstraße verließ, entdeckte er einen weiteren Trupp und rief sie ebenfalls hinter sich her, indem er vage nach vorn zeigte. Für sie war er nur ein anderer Soldat – jedenfalls für den Augenblick noch. Wenn er sie vor sich manövrieren konnte, wäre es ihm vielleicht möglich, ebenfalls zu entkommen.
»Die Scheune da vorn!« schrie er, als der erste Trupp ihn einholte. »Da sind sie drin!«
Die Soldaten stürmten an ihm vorbei, erst der erste Trupp, dann der zweite. Morgan wendete und stürmte in entgegengesetzter Richtung davon. Als er um die Ecke eines Nahrungsspeichers bog, rannte er direkt in die Arme eines dritten Trupps.
»Sie sind in …«
Er hielt abrupt inne. Der Wachkapitän stand vor ihm und brüllte, als er ihn erkannte.
Morgan versuchte zu fliehen, doch die Soldaten waren im Nu über ihm. Er verteidigte sich tapfer, aber er hatte keinen Platz zum Manövrieren. Seine Angreifer rückten näher und zwangen ihn zu Boden. Schläge prasselten auf ihn nieder.
Es klappt nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte, dachte er trübsinnig, und dann wurde alles schwarz.
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