Er schleppte den bewußtlosen Soldaten ein paar Häuser weiter zu einer Scheune und schlüpfte hinein. Niemand sah ihn hineingehen. Dort im Finstern zog er dem Mann die Uniform aus, fesselte und knebelte ihn sorgfältig und zerrte ihn hinter einen Stapel Hafersäcke. Er zog die Uniform an, klopfte sie sauber, strich die Falten glatt und stopfte seine eigenen Kleider in einen Sack, den er mitgebracht hatte. Dann schnallte er sich die Waffen um und trat wieder hinaus.
Und beeilte sich. Das Gelingen seines Plans hing von der Wahl des richtigen Zeitpunkts ab. Er mußte das Verwaltungszentrum der Arbeitshäuser direkt nach dem Wachwechsel erreichen. Der in den Kneipen verbrachte Tag hatte ihm alle Informationen über Leute, Orte und Arbeitsweise gebracht, die er nötig hatte, er brauchte seine Kenntnisse nur in Anwendung zu bringen. Die abendlichen Schatten breiteten sich schon über das Waldland und verschlangen die restlichen sonnigen Flecken. Die Straßen begannen sich zu leeren, Soldaten, Händler und Bürger strebten heimwärts zum abendlichen Mahl. Morgan hielt Abstand, achtete darauf, höher gestellte Offiziere im Vorbeigehen zu grüßen und alles in seiner Macht Stehende zu tun, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er gab sich einen entschlossenen Ausdruck und eine Haltung, die dazu angetan war, andere in Schach zu halten. Er wurde zu einem ziemlich hart aussehenden, pflichtbewußten Föderationssoldaten – einem von jenen, denen man sich lieber nicht ohne triftigen Grund näherte, einem, den man besser nicht verärgerte. Es schien zu klappen, man ließ ihn in Ruhe.
Die Arbeitshäuser waren erleuchtet, als er sich ihnen näherte, das Tagwerk kam zu seinem Ende. Das Abendessen in Form von Suppe und Brot wurde von den Wächtern hineingetragen. Die Essensgerüche wehten durch die Luft – nicht besonders appetitanregend. Morgan überquerte die Zufahrt zu den Vorratsscheunen und tat so, als überprüfe er etwas. Die Minuten verstrichen, und die Dunkelheit kam näher.
Genau bei Sonnenuntergang war Wachwechsel. Neue Wachen traten an die Stelle der alten auf den Straßen und an den Türen der Arbeitshäuser. Morgan hielt seinen Blick auf das Verwaltungszentrum fixiert. Der Tagesoffizier gab seinen Platz für seinen nächtlichen Partner frei. Ein Adjutant übernahm den Empfangstresen. Zwei Männer im Dienst – das war alles. Morgan gab allen ein paar Minuten Zeit, sich einzurichten, dann holte er tief Luft und trat aus den Schatten hervor.
Er ging schnurstracks ins Zentrum, trat ein und präsentierte sich am Empfangsschalter. »Da bin ich wieder«, verkündete er.
Der Adjutant schaute ihn ausdruckslos an.
»Wegen der alten Damen«, fügte Morgan hinzu. Er machte eine Pause. »Hat man Sie nicht informiert?«
Der Adjutant schüttelte den Kopf. »Ich bin eben erst …«
»Aber da mußte ein Auslieferungsbefehl von vor weniger als einer Stunde auf Ihrem Tisch liegen«, fauchte Morgan. »Haben Sie ihn nicht?«
»Hm, nein …« Der Adjutant wühlte auf seinem Schreibtisch herum und schob Aktenstapel hin und her.
»Unterschrieben von Major Assomal.«
Der Adjutant erstarrte. Er wußte, wer Major Assomal war. Es gab in der ganzen in Culhaven stationierten Garnison keinen Soldaten, der ihn nicht kannte. Morgan hatte in der Kneipe von dem Major erfahren. Assomal war der gefürchtetste und verhaßteste Föderationsoffizier der Besatzungsarmee. Niemand wollte mit ihm zu tun haben, wenn er es irgendwie vermeiden konnte.
Der Adjutant erhob sich eilig. »Ich gehe den Wachoffizier holen«, stammelte er.
Er verschwand im Nebenbüro und kam wenige Augenblicke mit seinem Vorgesetzten zurück. Der Kapitän war sichtlich erregt. Morgan salutierte mit genau der richtigen Dosis Verachtung.
»Um was handelt es sich?« fragte der Kapitän, doch die Frage klang eher wie ein Flehen.
Morgan verschränkte die Hände hinter dem Rücken und reckte sich auf. Sein Herz klopfte heftig. »Major Assomal wünscht die Dienste von zwei Zwergenfrauen, die sich zur Zeit in den Arbeitshäusern befinden. Ich habe sie heute auf seinen Wunsch persönlich ausgewählt. Ich bin fortgegangen, damit die Papiere ausgefüllt werden können, und jetzt bin ich wieder da. Doch mir scheint, die Papiere sind noch nicht fertiggestellt worden.«
Der Wachkapitän war ein bleicher Mann mit einem runden Gesicht, der aussah, als habe er den größten Teil seiner Dienstzeit hinter einem Schreibtisch absolviert. »Ich weiß davon nichts«, knurrte er verdrießlich.
Morgan zuckte mit den Achseln. »Na gut. Soll ich Major Assomal diese Nachricht überbringen, Kapitän?«
Der Mann erblaßte. »Nein, nein, das wollte ich damit nicht sagen. Die Sache ist, daß ich …« Er atmete scharf aus. »Das ist sehr unangenehm.«
»Insbesondere, weil Major Assomal mich jeden Moment zurückerwartet.« Morgan hielt inne. »Mit den Zwerginnen«, fügte er hinzu.
Der Wachkapitän warf die Hände in die Luft. »Also gut! Was spielt es für eine Rolle! Ich werde sie selbst unterzeichnen! Lassen Sie sie herschaffen und die Angelegenheit hinter uns bringen!«
Er klappte das Namensregister auf, während Morgan ihm über die Schulter schaute, und stellte fest, daß Elise und Jilt im Arbeitshaus Nummer vier untergebracht waren. Hastig füllte er einen Entlassungsschein für die Arbeitshauswache aus. Als er den Adjutanten losschicken wollte, um die alten Damen zu holen, bestand Morgan darauf, daß er selbst mitginge.
»Nur, um sicher zu sein, daß es keine weiteren Mißverständnisse mehr gibt, Kapitän«, erklärte er. »Immerhin muß ich gegenüber Major Assomal dafür geradestehen.«
Der Wachkapitän widersprach nicht, weil ihm offensichtlich daran lag, die Angelegenheit so schnell wie möglich zu erledigen, und Morgan ging mit dem Adjutanten hinaus. Die Nacht war still und angenehm warm. Morgan war es fast fröhlich zumute. Sein Plan, Risiko hin oder her, schien zu klappen. Sie überquerten das Gelände zum Gebäude vier, präsentierten den Wachen, die vor der Tür postiert waren, den Entlassungsbefehl und warteten, bis sie ihn durchgelesen hatten. Dann schlossen die Wachen die Türen auf und winkten sie hinein. Morgan und der Adjutant stießen die schweren Holztüren auf und traten ein.
Das Arbeitshaus war vollgestopft mit Arbeitstischen und Leibern. Es roch nach Schweiß und verbrauchter Luft. Staub lag überall, die Lampen beleuchteten die schmutzigen, ungetünchten Wände. Die Zwergenfrauen kauerten auf dem Fußboden, hielten Suppenschüsseln und Brotstücke in der Hand und beendeten ihr Abendessen. Köpfe und Augen drehte sich hastig zu den beiden Föderationssoldaten und wandten sich ebenso hastig wieder ab. Morgan entging der unmißverständliche Ausdruck von Angst und Abscheu nicht.
»Rufen Sie sie auf«, befahl er dem Adjutanten.
Der Adjutant tat, wie geheißen. Seine Stimme hallte durch den kellerartigen Saal, und am hinteren Ende rappelten sich zwei gebeugte Gestalten auf die Füße.
»Und jetzt warten Sie draußen auf mich«, forderte Morgan.
Der Adjutant zögerte und verschwand dann durch die Tür. Morgan wartete ungeduldig, bis Elise und Jilt sich mühsam den Weg zwischen den Leibern, Bänken und Pritschen hindurch bis zu der Stelle, an der er stand, gebahnt hatten. Er konnte sie kaum wiedererkennen. Ihre Kleider waren zerlumpt. Elises feines, graues Haar war ungepflegt und sah aus, als sei es ausgefranst. Jilts Vogelgesicht war verbissen und spitz. Sie waren mehr als nur vom Alter gebeugt, und sie bewegten sich so langsam, als verursache es ihnen Schmerzen, auch nur zu laufen.
Sie traten mit gesenktem Blick vor ihn und blieben stehen.
»Elise«, sagte er leise. »Jilt.«
Sie schauten langsam auf, und ihre Augen weiteten sich. Jilt hielt den Atem an. »Morgan!« flüsterte Elise erstaunt. »Junge, bist du es?«
Er beugte sich schnell hinunter und nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. Sie sackten in seine Arme wie Stoffpuppen, die keine eigene Kraft besitzen, und er hörte, wie sie beide zu weinen begannen. Hinter ihnen starrten die anderen Zwergenfrauen sie verwirrt an.
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