Als er den Kopf aus der Bodenöffnung schob, erblickte er die schattenhaften Umrisse dreier nicht weit vor ihm stehender Personen. Da das Sehvermögen während der Erholungsphase nach einem Aufenthalt in der Sliph beträchtlich schärfer war als normal, konnte er sie vermutlich besser sehen als sie ihn. Und dank ebendieses geschärften Sehvermögens konnte er erkennen, dass der Mann in der Mitte ein zierliches Mädchen an seinen Körper gepresst hielt und ihr mit einer Hand den Mund zuhielt. Er konnte das Mädchen sich winden sehen. Auf der Klinge, die er ihr an den Hals presste, schimmerte das Mondlicht. »Waffen runter«, knurrte der Mann, der das Mädchen festhielt, »und ergib dich der Imperialen Ordnung, oder du bist tot.«
Richard warf das Messer so in die Luft, dass es eine halbe Drehung beschrieb, und fing es an der Spitze auf. Plötzlich stürzte ein dunkler Schatten auf den Kopf des Mannes herab; der Vogel stieß ein so durchdringendes Krächzen aus, dass der Mann zusammenzuckte. Richard nahm sich nicht die Zeit, sich über diese unerwartete Attacke zu wundern, sondern schleuderte das Messer.
Der Vogel erhob sich auf weiten Schwingen in die Lüfte, als die Klinge den Mann mit einem satten, dumpfen Geräusch mitten ins Gesicht traf. Die Klinge war so lang, dass sie das Gehirn des Mannes durchbohrte und mit der Spitze an der Rückseite des Schädels wieder austrat. Der Mann schlug hinter dem Mädchen kerzengerade auf den Boden und war tot, ehe er auch nur daran denken konnte, der Kleinen etwas anzutun. Die Männer rechts und links der Kleinen kamen nicht einmal mehr dazu, sich von der Stelle zu rühren, da entfesselte Nicci eine leise sirrende Sichel aus purer Energie, welche die beiden säuberlich enthauptete. Das einzige Geräusch, das dabei entstand, war der dumpfe Doppelschlag der beiden auf dem Boden aufprallenden Schädel. Die Körper selbst sanken rechts und links der Kleinen nieder. Bis auf das Zirpen der Zikaden herrschte wieder Stille in der Nacht.
Mit zögerlichen Schritten kam das Mädchen näher, ließ sich auf die Knie fallen und beugte sich am Rand der Stufen vor, bis ihre Stirn den Stein zu seinen Füßen berührte. »Ich bin Eure ergebene Dienerin, Lord Rahl. Ich danke Euch, dass Ihr gekommen seid und mich beschützt habt. Ich lebe nur, um zu dienen. Mein Leben gehört Euch. Gebietet nach Belieben über mich.«
Die Kleine hatte ihren mit zitternder Stimme vorgetragenen Spruch noch nicht ganz aufgesagt, da schwärmten Cara und Nicci bereits zu den Seiten aus und hielten nach weiteren Gefahren Ausschau. Richard legte einen Finger an die Lippen, um ihnen zu bedeuten, dass sie dabei völlig lautlos vorgehen sollten, um möglicherweise in der Nähe lagernde Truppen nicht auf sie aufmerksam zu machen. Die beiden sahen sein Zeichen und bestätigten es mit einem Nicken.
Er wartete, lauschte, ob ihnen etwas gefährlich werden konnte. Da das Mädchen ohnehin bereits am Boden lag, ließ er sie dort liegen, wo sie in Sicherheit war. Plötzlich vernahm er das Rauschen von Federn in der Luft. Der Rabe ließ sich auf einem nahem Ast nieder, und kurz darauf folgte ein leises Rascheln, als er seine Flügel zusammenfaltete.
»Die Luft ist rein«, verkündete Nicci mit leiser Stimme, als sie sich wieder aus den Schatten schälte. »Mein Han sagt mir, dass sich in der unmittelbaren Umgebung sonst niemand mehr befindet.«
Erleichtert ließ Richard die Anspannung aus seinen Muskeln weichen. Dann hörte er das Mädchen in stillem Entsetzen leise wimmern und setzte sich unmittelbar neben sie auf die oberste Treppenstufe. »Schon gut.« Sachte fasste er sie bei den Schultern und drängte sie, sich aufzurichten. »Ich tu dir nicht weh. Du bist jetzt erst einmal in Sicherheit.«
Kaum hatte sie sich aufgerichtet, zog er das völlig verängstigte Mädchen in seine Arme, drückte sie beschützend an sich und zog, als sie zu den drei Toten hinüberblickte, so als könnten sie noch immer jeden Moment aufspringen und sie ihm wieder entreißen, ihren Kopf an seine Schulter. Sie war ein zierliches, gelenkiges Ding, ein junges Mädchen an der Schwelle zur erwachsenen Frau, und doch wirkte sie so zerbrechlich wie ein gerade flügge gewordener Vogel. Vor Erleichterung weinend, schlang sie ihre dünnen Arme um Richards Hals. »Ist der Vogel ein Freund von dir?«, fragte er.
»Das ist Lokey«, bestätigte sie mit einem Nicken. »Er passt auf mich auf.«
»Nun, heute Abend hat er seine Sache jedenfalls gut gemacht.« »Ich dachte schon, Ihr würdet nicht mehr kommen, Meister Rahl. Ich dachte, ich wäre schuld daran, weil ich Euch als Priesterin nicht gut genug bin.«
Er strich ihr mit der Hand über den Hinterkopf. »Woher wusstest du denn, dass ich kommen würde?«
»Die Weissagungen haben gesagt, dass es so geschehen wird. Aber ich hab schon so lange gewartet, dass ich dachte, sie hätten sich geirrt. Ich hatte die Hoffnung fast schon aufgegeben und dachte, Ihr würdet uns vielleicht nicht als würdig befinden, und hatte Angst, ich wäre womöglich schuld daran.«
Mit diesen Weissagungen, vermutete er, war offenbar eine Art Prophezeiungen gemeint. »Du sagst, du bist Priesterin?«
Als sie darauf nickte, ein Stück zurückwich und in sein lächelndes Gesicht schaute, sah Richard, dass ihre großen, kupferfarbenen Augen hinter einer tiefdunklen, auf ihr Gesicht aufgemalten streifenförmigen Maske hervorlugten.
»Ich bin die Priesterin der Gebeine. Ihr seid zurückgekehrt, um mir zu helfen. Ich bin Eure Dienerin und dazu ausersehen, die Träume zu übertragen.«
»Zurückgekehrt ?«
»Ins Leben. Ihr seid von den Toten zurückgekehrt.«
Richard starrte sie nur verständnislos an.
Nicci hockte sich neben das Mädchen. »Was meinst du damit, er ist von den Toten zurückgekehrt?«
Das Mädchen zeigte hinter sie, auf das Gebäude, aus dem sie hervorgekommen waren. »Aus dem Totenreich zurückgekehrt zu uns, den Lebenden. Sein Name steht hier auf dem Grabstein.«
Richard drehte sich um. Tatsächlich, dort erblickte er seinen in das Monument gemeißelten Namen. Sofort musste er daran denken, dass er auch Kahlans Namen in Stein gemeißelt gesehen hatte – und beide lebten sie noch, obwohl es mit ihrem Namen gekennzeichnete Gräber gab.
Das Mädchen sah erst zu Cara, dann zu Nicci. »In den Weissagungen heißt es, dass Ihr wieder ins Leben zurückkehren werdet, aber nicht, dass Ihr Eure Schutzgeister mitbringen würdet.«
»Ich bin nicht von den Toten zurückgekehrt«, klärte er sie auf. »Ich bin durch die Sliph gekommen, aus dem Brunnen dort unten.«
Sie nickte. »Das ist der Brunnen der Toten. In den Weissagungen war von diesen rätselhaften Dingen die Rede, aber ich wusste nie, was sie bedeuten.«
»Wie soll ich dich anreden, mit ›Priesterin‹ oder mit deinem Namen?«
»Ihr seid Meister Rahl, Ihr könnt mich nennen, wie immer es Euch beliebt. Aber mein Name ist Julian. Den Namen habe ich schon mein Leben lang.«
»Also, Julian, mein Name ist Richard. Ich würde mich freuen, wenn du mich Richard nennen würdest.«
Sie nickte, noch immer diesen ehrfurchtsvollen Blick in ihren großen, runden Augen, dabei wusste er nicht einmal, ob ihre Ehrfurcht dem Meister Rahl galt oder einem zu den Lebenden zurückgekehrten Toten, der soeben aus seinem Grab gestiegen war.
»Jetzt pass mal auf, Jillian, über deine Weissagungen weiß ich überhaupt nichts, jedenfalls noch nicht, aber eins musst du verstehen, ich bin nicht von den Toten zurückgekehrt. Ich bin hierher gereist, weil ich in Schwierigkeiten stecke und weil ich auf der Suche nach Antworten bin.«
»Die Schwierigkeiten habt Ihr ja nun gefunden, Ihr habt gerade drei von ihnen getötet. Und die Antwort lautet: Ihr müsst mir helfen, die Träume zu übertragen, damit wir diese bösen Männer verjagen können. Sie haben den größten Teil unseres Volkes in die Verstecke getrieben. Die Älteren sind dort unten.« Sie wies den dunklen Hang hinab. »Sie zittern vor Angst, dass diese Männer sie töten könnten, wenn sie nicht finden, was sie suchen.«
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