Er packte Julians Haar mit seiner riesigen Pranke und machte Anstalten, sie wieder zu sich herüberzuziehen. Julian schrie vor Entsetzen.
»Ja, Exzellenz!«, stieß Kahlan hastig hervor. Lächelnd ließ er das Haar des Mädchens los. »Schon besser.« Obwohl sich Kahlan nichts sehnlicher wünschte, als dass dieser Albtraum enden möge, wusste sie, dass dies erst der Anfang war.
»Hör auf, dich wie ein kleines Kind zu benehmen, und halt still.«
Johnrock blinzelte hektisch. »Pass auf, dass sie nicht in die Augen kommt.«
»Ich werde schon nicht zulassen, dass sie dir in die Augen tropft.«
Johnrock tat einen bangen Atemzug. »Wieso muss ausgerechnet ich der Erste sein?«
»Weil du mein rechter Flügelstürmer bist.«
Darauf wusste er nicht gleich etwas zu erwidern. Er entzog sein Kinn Richards Griff. »Glaubst du wirklich, dass es uns helfen wird zu gewinnen?«
»Ganz bestimmt«, antwortete der und richtete sich auf. »Voraus gesetzt, wir alle halten uns an die Abmachungen. Durch die Farbe allein werden wir kein Spiel gewinnen, trotzdem wird sie ein wichtiges Hilfsmittel sein, etwas, was uns ein bloßer Sieg nicht geben kann - sie wird uns helfen, einen Ruf zu begründen. Einen Ruf, der alle verunsichern wird, die als Nächste gegen uns antreten müssen.«
»Mach voran, Johnrock«, maulte einer der anderen Männer und verschränkte ungeduldig die Arme vor der Brust.
Der Rest der Mannschaft, der sich um sie geschart hatte, um zuzusehen, nickte beifällig. Keiner von ihnen hatte sich als Erster zur Verfügung stellen wollen. Die meisten, wenn auch nicht alle, hatten sich erst von Richards Erklärung über den Nutzen der Farbe breitschlagen lassen. Johnrock warf einen Blick in die Runde der Wartenden, schließlich zog er ein Gesicht und gab sich geschlagen. »Na schön, also los.«
Richard blickte an seinem Flügelstürmer vorbei zu den Posten, die mit eingelegtem Pfeil bereitstanden. Jetzt, da man den Gefangenen die Ketten abgenommen hatte, hielten sie Ausschau nach dem geringsten Anzeichen von Ärger, während sie darauf warteten, die Mannschaft zu ihrer ersten Partie zu geleiten. Kommandant Karg ließ stets eine schwere Bewachung aufziehen, sobald Richard und seine Mitgefangenen nicht angekettet waren, trotzdem fand dieser es auffällig, dass die meisten Pfeile auf ihn gerichtet waren.
Er konzentrierte sich auf Johnrock und packte die Oberseite seines Kopfes, um ihn ruhigzuhalten.
Richard hatte sich den Kopf darüber zerbrochen, womit er die Gesichter der Mannschaft bemalen sollte. Zuerst hatte er vorgehabt, die Bemalung einfach jedem freizustellen, doch nach kurzem Nachdenken war er zu dem Schluss gelangt, dass er sie nicht ihnen überlassen durfte. Dafür stand zu viel auf dem Spiel.
Außerdem waren alle der Meinung, dass Richard dies übernehmen sollte. Er war die Angriffsspitze, und es war seine Idee gewesen. Vermutlich waren die meisten unschlüssig, weil sie befürchteten, ausgelacht zu werden, und hatten deshalb gewollt, dass er die Sache in die Hand nahm. Richard tauchte seinen Finger in einen kleinen Eimer roter Farbe. Er hatte sich gegen den Pinsel entschieden, den der Kommandant zusammen mit der Farbe gebracht hatte.
Er wollte den Akt des Malens unmittelbar spüren.
Trotz der wenigen Zeit, die ihm noch blieb, hatte er ausgiebig über die zu malenden Motive nachgedacht. Auf jeden Fall musste es etwas sein, mit dem sich seine ursprüngliche Absicht umsetzen ließe. Damit es in der ihnen geschilderten Weise funktionierte, musste er etwas malen, was er kannte.
Den Tanz mit dem Tod.
Denn der hatte letztendlich das Leben selbst zum Mittelpunkt, wenngleich sich seine Bedeutung nicht allein in dem Gedanken bloßen Überlebens erschöpfte. Der Zweck dieser Formen war die Fähigkeit, dem Bösen die Stirn zu bieten und es zu vernichten, ihren Träger auf diese Weise zu befähigen, das Leben selbst zu erhalten, selbst wenn es das eigene war. Es war eine feine, aber wichtige Unterscheidung: Wer fähig sein wollte, für das Leben zu kämpfen, musste die Existenz des Bösen anerkennen.
Ihm selbst war diese unabdingbare Notwendigkeit vollkommen klar, gleichwohl war es zweifellos ein Gedanke, dem sich zu stellen viele Menschen bewusst ablehnten. Stattdessen zogen sie ein Leben in Blindheit vor, in einer Phantasiewelt. Der Tanz mit dem Tod ließ solche tödlichen Träumereien nicht zu. Wer überleben wollte, brauchte einen ungetrübten und wachen Blick auf die Wirklichkeit, weshalb der Tanz mit dem Tod die Erkenntnis der Wahrheit erforderte. All dies bildete ein Ganzes, dem kein Erfolg beschieden war, sobald man Teile überging oder gar ganz wegließ.
Der Form nach waren die Elemente des Tanzes mit dem Tod Bestandteil einer jeden Auseinandersetzung - ob es sich nun um eine Diskussion, ein Spiel oder einen Kampf bis zum Tod handelte. In der Sprache der Embleme dargestellt, bildeten diese Bestandteile die Ideen, die den Tanz ausmachten. Wer sich dieser Ideen bedienen wollte, musste imstande sein, das wahre Geschehen zu erkennen, um sich ihm stellen zu können. Letztendlich bestand der Zweck des Tanzes mit dem Tod darin, das Leben zu gewinnen. Übersetzt bedeutete Ja’La dh Jin, wie bereits erwähnt, »Das Spiel des Lebens«.
Alle Gegenstände, die einen Kriegszauberer ausmachten, spielten im Tanz mit dem Tod eine gewisse Rolle, in diesem Sinne hatte er sich dem Leben verschrieben. So stellten unter anderem die Symbole auf dem Amulett, das er getragen hatte, ein Abbild, eine verdichtete Darstellung des grundlegenden Gedankens des Tanzes dar - Bewegungen, die ihm aus Kämpfen mit dem Schwert der Wahrheit bekannt waren. Und obwohl er das Schwert nicht mehr besaß, begriff er die Bedeutung des Tanzes mit dem Tod in ihrer Gesamtheit, weshalb ihm das aus dem Kampf mit dem Schwert gewonnene Wissen erhalten geblieben war. Anfangs hatte Zedd ihn stets daran erinnert, dass das Schwert nichts weiter als ein Werkzeug war. Was zählte, war der dahintersteckende Geist.
Später, nachdem Zedd ihm das Schwert ausgehändigt hatte, hatte er ein Verständnis für die Sprache der Symbole entwickelt. Er wusste, was sie bedeuteten, sie sprachen zu ihm. Er erkannte die zu einem Kriegszauberer gehörenden Symbole und verstand ihre Bedeutung. Mit dem Finger begann er diese Linien auf Johnrocks Gesicht aufzutragen, Linien, die sich aus Teilen des Tanzes zusammensetzten, Symbole der Bewegungen im Angesicht des Feindes. Jede Kombination von Elementen besaß seine eigene Bedeutung: Schnitt, Ausfallschritt, Stoß, Drehung, Kreisen, Querschlag, Nachsetzen und das schnelle Herbeiführen des Todes, während man sich bereits auf das nächste Angriffsziel vorbereitete. Die Linien, die er auf Johnrocks Gesicht auftrug, waren Warnungen, alles im Auge zu behalten, was einen attackierte, ohne dass sich das Blickfeld verengte. Richard zeichnete jedoch nicht nur die Elemente des Tanzes nach, sondern auch Teile von Bannen, die er gesehen hatte. Anfangs war er sich dessen gar nicht bewusst. Er hatte Mühe, sich zu erinnern, wo er sie gesehen hatte, doch dann fiel ihm wieder ein, dass sie Teil jener Banne waren, die Darken Rahl in den Zauberersand im Garten des Lebens gezeichnet hatte, um die für das Öffnen der Kästchen der Ordnung erforderliche Magie zu beschwören.
Erst jetzt gewahrte Richard, dass ihm der Besuch jener seltsamen, gespenstischen Gestalt am Abend zuvor noch schwer auf der Seele lag. Die Stimme hatte behauptet, er sei als Spieler genannt worden. Da dies der erste Tag des Winters sei, bleibe ihm noch ein Jahr, das richtige Kästchen der Ordnung zu öffnen.
Trotz seiner Erschöpfung hatte er nach dieser Begegnung an kaum etwas anderes denken können. Er hatte kaum Schlaf gefunden, und abgelenkt von den schmerzhaften Wunden an seinem Bein und auf dem Rücken, war er nicht dazugekommen, sich mit ganzer Kraft der Lösung dieses Rätsels zu widmen. Der erste Tag des Winters hatte die Mannschaftsbesichtigung durch Jagang gebracht. Seine plötzliche Sorge, wie sich vermeiden ließe, dass dieser ihn erkannte, hatte ihn daran gehindert, darüber nachzudenken, wie es möglich war, dass er ein Spieler für die Kästchen der Ordnung sein sollte.
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