»Wir haben sie«, berichtete einer von ihnen außer Atem. Ein verschlagenes Lächeln breitete sich langsam über Jagangs Gesicht.
»Wo ist sie?«
Der Mann zeigte. »Gleich dort oben, Exzellenz.«
Jagang warf Kahlan einen Blick zu. Sie wusste nicht, was er im Schilde führte, doch der Blick ließ es ihr eiskalt über den Rücken laufen.
»Schafft sie hier herunter, sofort«, wies Jagang den Soldaten an. Der mühte sich zusammen mit einem seiner Kameraden wieder den Hang hinauf, um ihre Gefangene, wer immer es war, zu holen. Kahlan hatte keine Ahnung, von wem die Männer gesprochen hatten, oder warum sich Jagang darob so begeistert zeigte.
Während alles wartete, fuhren die Bauaufseher mit der Freilegung des eingegrabenen Gebäudes fort, und nach kurzer Zeit war eine Steinfläche von nahezu fünfzig Fuß Länge freigelegt. Der gesamte freigelegte Teil verlief in einer geraden Linie und wies über die gesamte Länge die immer gleiche Wölbung auf.
Andere Arbeiter waren mit der Verbreiterung der Ausgrabungsstätte rings um das glatte Mauerwerk beschäftigt. Je mehr sie freiräumten, desto deutlicher wurden Gestalt und Ausmaß der Konstruktion sichtbar. Sie war alles andere als klein. Wenn es sich bei dem Mauerwerk tatsächlich um die Decke eines darunterliegenden Gebäudes handelte, dann musste dieser Raum oder diese Grabstätte einen Durchmesser von nahezu zwanzig Fuß besitzen. Da nichts auf ein Ende hindeutete, ließ sich die Gesamtlänge noch nicht abschätzen, doch so weit sie bislang sehen konnte, schien es eine Art verschütteter Gang zu sein. Als sie gedämpfte Schreie und das Scharren von Füßen vernahm, blickte Kahlan auf. Die hünenhaften Leibwächter schleiften eine sich heftig wehrende, schmächtige Gestalt den morastigen Hang herunter. Sie hatte die Augen aufgerissen, und die Knie drohten unter ihr nachzugeben.
Jeder der Männer hielt den dünnen Arm eines Mädchens gepackt, das nicht einmal halb so groß war wie sie.
Es war Julian, das Mädchen aus der uralten Ruinenstadt Caska, jenes Mädchen, dem Kahlan zur Flucht verholfen hatte - wobei sie zwei Leibwächter Jagangs und Schwester Cecilia getötet hatte. Als die beiden das wehrlose Mädchen heranschleppten, fanden seine kupferfarbenen Augen zu guter Letzt Kahlan. Und sofort füllten sich diese Augen mit Tränen über den ungeheuren Verlust sowie ihr Unvermögen, den Soldaten der Imperialen Ordnung zu entkommen. Die Leibwächter schleiften die Kleine bis unmittelbar vor den Kaiser und stellten sie vor ihm auf die Füße.
»Sieh an«, bemerkte Jagang mit leicht säuerlichem Schmunzeln, »wen haben wir denn hier?«
»Tut mir leid«, murmelte die Kleine mit einem Blick zu Kahlan. Jagang sah kurz zu ihr hinüber. »Ich habe deine kleine Freundin hier suchen lassen. Ziemlich dramatisch, was du dir bei ihrer Flucht herausgenommen hast.« Er packte Julian am Kinn, so dass seine Finger sich in ihre Wangen bohrten. »Zu dumm, dass alles vergeblich war.«
Dieser Ansicht war Kahlan durchaus nicht. Sie hatte mindestens zwei seiner Leibwächter sowie Schwester Cecilia getötet, sie hatte ihr Bestes gegeben, um Julian zu befreien. Sie hatte alles versucht und diesen Versuch teuer bezahlen müssen, und doch würde sie beim nächsten Mal wieder so handeln.
Mit mächtiger Hand packte Jagang den dürren Arm des Mädchens und zog es zu sich heran. Wieder grinste er Kahlan an. »Weißt du, was wir hier vor uns haben?«
Kahlan enthielt sich einer Antwort. Sie hatte nicht die Absicht, sich auf sein Spiel einzulassen.
»Was wir hier vor uns haben«, beantwortete er seine Frage selbst, »ist jemand, der dir helfen wird, dich zu benehmen.«
Sie bedachte ihn mit einem leeren Blick, fragte aber nicht nach. Unvermittelt zeigte Jagang auf die Hüfte eines der Sonderbewacher Kahlans, der rechts von ihr stand. »Wo ist dein Messer?«
Der Mann betrachtete seinen Gürtel, als befürchtete er, eine Schlange werde jeden Augenblick ihre Fänge in ihn schlagen. Schließlich sah er von der leeren Messerhülle wieder auf.
»Exzellenz, ... ich, ich muss es wohl verloren haben.«
Jagangs eiskalter Blick ließ ihn erbleichen. »Ganz recht, du hast es verloren.«
Er wirbelte herum und schlug Julian den Handrücken so heftig ins Gesicht, dass sie durch die Luft geschleudert wurde. Sie landete schreiend vor Schock und Schmerz im Morast. In der Pfütze rings um ihr Gesicht breitete sich eine rötliche Lache aus.
Die Hand fordernd ausgestreckt, wandte sich Jagang wieder zu Kahlan herum. »Das Messer - gib es mir.«
Der Blick aus seinen vollkommen schwarzen Augen war so tödlich, dass Kahlan glaubte, aus schierer Angst einen Schritt zurücktreten zu müssen. Jagang machte eine fordernde Geste. »Wenn ich dich noch einmal fragen muss, trete ich ihr die Zähne ein.«
Im Nu schössen ihr alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Sie fühlte sich, wie sich auch der Mann mit den grauen Augen gefühlt haben musste, ehe er sich absichtlich in den Schlamm geworfen hatte. Ihr blieb ebenfalls keine Wahl.
Kahlan legte ihm das Messer in die geöffnete Hand.
Ein triumphierendes Grinsen ging über sein Gesicht. »Danke, Schätzchen.«
Dann drehte er sich urplötzlich herum und stieß es dem Mann, dem es gehörte, mit einer wuchtigen Bewegung mitten ins Gesicht. Ein lautes Knirschen hallte in der feuchten Luft wider, als der Knochen splitterte. Der Mann brach tot im Morast zusammen, das hervorschießende Blut ein schockierender Anblick im grauen Dämmer. Er hatte nicht einmal mehr Zeit zu schreien, ehe er starb.
»Da hast du dein Messer zurück«, schrie er den am Boden Liegenden an. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die verblüfften Mienen der Sonderbewacher Kahlans. »Ich schlage vor, ab sofort werdet ihr besser auf eure Waffen aufpassen als euer Kamerad hier. Sollte sie einem von euch noch einmal eine Waffe abnehmen und ihn nicht damit töten, werde ich es tun. Habe ich mich einfach genug ausgedrückt, dass ihr das alle begreift?«
Wie aus einem Munde antworteten sie: »Ja, Exzellenz.«
Er bückte sich, riss die schluchzende Julian auf die Beine und hielt sie mühelos in einer Hand, sodass nur ihre Zehen den Boden berührten.
»Weißt du, wie viele Knochen der menschliche Körper hat?« Kahlan unterdrückte ihre Tränen. »Nein.«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich auch nicht. Aber ich weiß, wie ich es herausfinden kann. Wir könnten ihr die Knochen einen nach dem anderen brechen und dabei jedes Knacken zählen.«
»Bitte ...«, flehte Kahlan, die sich mächtig anstrengen musste, ihr Schluchzen zu unterdrücken.
Jagang stieß die Kleine zu Kahlan hinüber, als machte er ihr eine lebensgroße Puppe zum Geschenk.
»Ab sofort bist du für ihr Leben verantwortlich. Wann immer du mein Missfallen erregst, werde ich ihr einen Knochen brechen. Die genaue Zahl der Knochen in ihrem kleinen, schmächtigen Körper ist mir nicht bekannt, aber ich bin mir sicher, dass es sehr viele sind.« Er hob eine Braue. »Und ich weiß, wie leicht mein Missfallen zu erregen ist.
Solltest du mehr als nur mein Missfallen erregen, werde ich sie vor deinen Augen foltern lassen. Ich verfüge über wahre Experten in dieser hohen Kunst.« Stürme aus grauen Schatten trieben durch seine tiefschwarzen Augen. »Sie verstehen sich meisterlich darauf, Menschen selbst unter unvorstellbaren Qualen noch lange Zeit am Leben zu halten. Sollte sie dennoch an der Folter sterben, werde ich mich an dir schadlos halten müssen.«
Kahlan zog den blutverschmierten Kopf der beklagenswerten Kleinen fest an ihre Brust. Als diese ihr leise schluchzend gestehen wollte, wie leid es ihr tue, dass sie sich hatte erwischen lassen, brachte Kahlan sie sanft zum Schweigen.
»Hast du mich verstanden?«, verlangte Jagang mit tödlich ruhiger Stimme zu wissen.
Kahlan schluckte. »Ja.«
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