»Natürlich kann ich nicht sehen, du Idiot!« fauchte Raistlin über seine Schulter, während er eilig zu seinem Pferd ging. »Ich denke! Ich benutze mein Gehirn! Sie reitet zu diesem Dorf, um die alte Religion wiederherzustellen. Sie reitet dorthin, um ihnen von den wahren Göttern zu erzählen!«
»Im Namen der Hölle!« fluchte Caramon. »Du hast recht, Raist«, sagte er nach einem nachdenklichen Augenblick. »Ich habe sie darüber sprechen hören, wenn ich es mir jetzt so überlege. Aber ich habe das nie ernst genommen.« Als er dann sah, wie sein Bruder sein Pferd losbinden und besteigen wollte, eilte er zu ihm hin. »Warte eine Minute, Raist! Wir können jetzt nichts unternehmen. Wir müssen bis zum Morgen warten.« Er zeigte zum Gebirge. »Du weißt genauso gut wie ich, daß wir auf diesen Pfaden nach Einbruch der Dämmerung nicht reiten können. Die Gefahr ist zu groß, daß die Pferde in ein Loch stolpern und sich ein Bein brechen. Abgesehen davon wissen wir nicht, was in diesen gottverlassenen Wäldern lebt.«
»Ich habe meinen Stab bei mir, der uns leuchten kann«, entgegnete Raistlin und zeigte auf den Stab des Magus, der in einem Lederbehälter am Sattel steckte. Er wollte aufsteigen, aber ein Hustenanfall zwang ihn zum Einhalten.
Caramon wartete, bis der Anfall vorüber war. »Sieh mal, Raist«, sagte er, »ich bin genau wie du um sie besorgt – aber ich glaube, du übertreibst. Laß uns vernünftig sein. Es ist ja nicht so, daß sie in eine Höhle voller Goblins reitet! Dieses magische Licht wird alles anziehen, was draußen in der Nacht lauert, so wie Motten von einer Kerzenflamme angezogen werden. Die Pferde sind müde. Du bist nicht in der Verfassung weiterzureiten, geschweige denn zu kämpfen, falls das nötig werden sollte. Wir suchen uns hier ein Nachtlager. Du kannst dich ausruhen, und morgen früh reiten wir gestärkt weiter.«
Raistlin regte sich nicht. Seine Hände lagen auf dem Sattel, und er starrte seinen Bruder an. »Du hast recht, mein Bruder«, sagte er.
Erst als Crysania in das Dorf ritt, stellte sie fest, daß etwas nicht stimmte.
Caramon wäre es natürlich sofort aufgefallen, wenn er vom Gipfel des Berges auf das Dorf hinuntergesehen hätte. Er hätte den fehlenden Rauch der Kaminfeuer bemerkt. Er hätte die unnatürliche Ruhe bemerkt – keine Mütter, die nach ihren Kindern riefen, kein dumpfes Muhen von Vieh, das von den Feldern heimgetrieben wird, keine Nachbarn, die sich nach einem langen Arbeitstag fröhlich begrüßen. Er hätte gesehen, daß kein Rauch von der Schmiede aufstieg, hätte sich nervös gefragt, warum aus den Fenstern kein Kerzenlicht leuchtete. Er hätte beunruhigt die große Anzahl am Himmel kreisender Aasvögel entdeckt...
All dies hätten Caramon oder Tanis, der Halbelf, oder Raistlin oder die anderen bemerkt und hätten sich mit der Hand am Schwert oder mit einem Zauberspruch auf den Lippen dem Dorf genähert.
Als Crysania langsam in das Dorf hineinritt und sich wunderte, wo denn die Bewohner wären, verspürte sie die ersten Anzeichen von Unbehagen. Sie wurde sich der Vögel bewußt, als ihre Schreie in ihre Gedanken eindrangen.
Crysania stieg vor einem Gebäude ab, dessen Schild es als Gasthaus kennzeichnete. Sie band das Pferd an einen Pfahl und ging zum Eingang. Kein Licht drang aus den Fenstern des Hauses. Crysania konnte kaum etwas erkennen, als sie die Tür öffnete. »Hallo?« rief sie zögernd. Bei dem Klang ihrer Stimme kreischten die Vögel auf. »Ist jemand hier? Ich möchte ein Zimmer...«
Aber sie erkannte, daß dieser Ort ohne Zweifel verlassen war. Vielleicht hatten sich alle der Armee angeschlossen. Das wußte sie von ganzen Dörfern. Aber als sie sich umsah, erkannte sie, daß es in diesem Dorf nicht der Fall gewesen war. Denn dann wären nur die Möbel hier geblieben; die Leute hätten ihre sonstigen Habseligkeiten mitgenommen.
Hier war der Tisch für das Abendessen gedeckt...
Sie trat weiter in den Raum hinein, als sich ihre Augen an die Düsterheit gewöhnt hatten. Jetzt konnte sie Gläser erkennen, die noch mit Wein gefüllt waren, die Flaschen standen offen mitten auf dem Tisch. Es gab kein Essen. Einige Teller waren heruntergeworfen und lagen zerbrochen auf dem Boden neben einem angeknabberten Knochen. Zwei Hunde und eine Katze schlichen herum; sie sahen halbverhungert aus.
Eine Treppe verlief nach oben. Crysania dachte daran hinaufzusteigen, aber dann verließ sie der Mut. Sie würde sich erst im Dorf umsehen. Sicher war jemand da, der ihr erklären konnte, was hier vor sich ging.
Sie nahm eine Lampe, zündete sie mit der Zunderbüchse an, die sie in ihrer Tasche hatte, und ging auf die Straße, die jetzt in fast völlige Dunkelheit getaucht war. Was war geschehen? Wo waren alle? Es sah nicht so aus, als ob die Stadt angegriffen worden wäre. Es gab keine Zeichen von Kampf – keine zerbrochenen Möbel, kein Blut, keine herumliegenden Waffen, keine Leichen.
Ihr Pferd wieherte bei ihrem Erscheinen. Sie unterdrückte den heftigen Wunsch, auf das Tier zu springen und so schnell wie möglich fortzureiten. Es war müde und mußte fressen. Als sie daran dachte, band sie es los und führte es zu dem Stall hinter dem Gasthaus. Der Stall war leer. Das war nicht ungewöhnlich – in dieser Zeit waren Pferde ein Luxus. Aber es gab Stroh und Wasser. Zumindest war also das Gasthaus auf Reisende eingestellt. Sie stellte ihre Lampe auf ein Gestell, nahm den Sattel von dem erschöpften Tier und rieb es ab. Als sie ging, kaute es Hafer, den es in einem Trog gefunden hatte.
Crysania nahm ihre Lampe und kehrte auf die leere, stumme Straße zurück. Sie spähte in dunkle Häuser. Nichts. Niemand. Als sie weiterging, hörte sie ein Geräusch. Kurz hörte ihr Herz zu schlagen auf, die Lampe schwankte in ihrer zitternden Hand. Sie blieb stehen, horchte, redete sich ein, daß es ein Vogel oder ein anderes Tier sei.
Nein, da war es wieder. Und noch einmal. Es war ein merkwürdiges Geräusch, wie ein Zischen und dann ein Aufplatschen. Bestimmt war daran nichts Unheimliches oder Bedrohliches.
Wütend auf sich, enttäuscht vom offensichtlichen Scheitern ihrer Pläne und entschlossen herauszufinden, was hier passiert war, ging Crysania kühn weiter.
Das Geräusch wurde lauter. Die Häuser hörten auf. Als sie um eine Ecke bog, fiel ihr plötzlich ein, daß sie die Lampe hätte löschen sollen. Aber der Gedanke kam zu spät. Beim Anblick des Lichts drehte sich die Gestalt, die das komische Geräusch verursacht hatte, um und starrte sie an.
»Wer bist du?« rief der Mann. »Was willst du hier?« Er klang nicht verängstigt, nur furchtbar müde, als ob ihre Gegenwart eine weitere schwere Bürde wäre.
Aber anstatt zu antworten, ging Crysania weiter. Jetzt hatte sie das Geräusch erkannt. Er hatte geschaufelt, denn er hielt eine Schaufel in der Hand. Er hatte kein Licht. Er hatte offensichtlich so schwer gearbeitet, daß er nicht einmal wahrgenommen hatte, daß die Nacht eingebrochen war.
Crysania hob ihre Lampe hoch, damit das Licht auf den Mann falle, und musterte ihn neugierig. Er war jung, jünger als sie – wahrscheinlich zwanzig oder einundzwanzig. Er war ein Mensch mit blassem, ernstem Gesicht und in Roben gekleidet, die sie für klerikale Gewänder hielt.
»Zurück!« schrie er.
»Was?« fragte Crysania erschreckt.
»Zurück!« wiederholte er schwächer.
»Nein«, sagte Crysania, die erkannte, daß der junge Mann krank oder verletzt war. Sie wollte ihren Arm um ihn legen, als ihr Blick auf seine Arbeit fiel.
Er hatte ein Grab aufgefüllt – ein Massengrab.
Als sie in die riesige Grube schaute, sah sie Leichen – Männer, Frauen, Kinder. Es gab keine Verletzungen an ihnen, kein Blut. Dennoch waren alle tot; das gesamte Dorf, erkannte sie betäubt. Und als sie sich umdrehte und in das Gesicht des jungen Mannes blickte, den Schweiß sah, die glasigen, fiebrigen Augen, wußte sie Bescheid.
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