Raistlin antwortete nicht, aber er hatte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck, als er hinter seinem Bruder hergaloppierte. Sie fanden die Stelle, an der Crysania wieder den Wald betreten hatte, erreichten einen Fluß und überquerten ihn.
Aber dann hielt Caramon sein Pferd an. »Was zum...« Er sah nach links und rechts und führte sein Tier im Kreis herum.
Raistlin seufzte und lehnte sich über den Sattelknopf. »Ich habe es dir doch gesagt«, meinte er grimmig. »Sie hat eine Absicht. Sie ist klug, mein Bruder. Klug genug, um dein Gehirn zu verstehen und wie es funktioniert, wenn es das tut.«
Caramon funkelte seinen Bruder an, aber dieser schwieg.
Crysanias Spur hatte aufgehört.
Wie Raistlin sagte, verfolgte Crysania eine bestimmte Absicht. Sie war klug, vermutete, was Caramon denken würde, und hatte ihn in die Irre geführt. Sie hatte zwar keine Ahnung vom Leben in der Wildnis, aber seit Monaten war sie mit Leuten zusammengewesen, die über solche Kenntnisse verfügten. Oft einsam – wenige nur sprachen mit der »Hexe« – und oft sich selbst überlassen, da Caramon genügend Probleme mit seiner Armee hatte und Raistlin sich in seine Studien vertiefte, blieb Crysania nichts anderes übrig, als für sich allein zu reiten, den Geschichten der anderen in ihrer Nähe zuzuhören und von ihnen zu lernen.
Sie hatte also auf ihren eigenen Spuren kehrtgemacht und war mit ihrem Pferd in den Fluß geritten. Als sie dann einen steinigen Teil des Ufers erreichte, wo ihr Pferd keine Spuren hinterlassen würde, war sie wieder an Land gegangen. Sie ritt wieder in den Wald hinein, vermied aber den Hauptweg und entschied sich statt dessen für eine der vielen Tierfährten. Sie war ziemlich sicher, daß Caramon ihr so etwas überhaupt nicht zutraute, und hatte keine Befürchtungen, daß er ihr folgte.
Wenn Crysania gewußt hätte, daß Raistlin seinen Bruder begleitete, hätte sie vielleicht anders gedacht, denn der Magier schien sie besser zu kennen als sie sich selbst. Aber sie wußte es nicht, und so setzte sie ihren Weg in mäßigem Tempo fort, damit sich das Pferd ausruhen konnte und sie Zeit hatte, ihre Pläne zu überdenken.
In ihren Satteltaschen führte sie eine Karte mit sich, die sie aus Caramons Zelt gestohlen hatte. Auf der Karte war ein kleines Dorf im Gebirge verzeichnet. Es war so klein, daß es nicht einmal einen Namen trug – zumindest war auf der Karte kein Name eingetragen. Aber dieses Dorf war ihr Ziel. Hier plante sie zwei Dinge zu erreichen: Sie wollte die Zeit verändern und Caramon, seinem Bruder und sich beweisen, daß sie mehr war als ein nutzloses, wenn auch gefährliches Gepäckstück. Sie wollte ihren Wert beweisen. Hier in diesem Dorf beabsichtigte Crysania, den Glauben an die uralten Götter zurückzubringen.
Das war kein neuer Einfall. Sie hatte schon häufig in Erwägung gezogen, diesen Versuch zu unternehmen, ihn aber nicht verwirklichen können. Denn Caramon und Raistlin hatten ihr strikt verboten, im Lager ihre klerikalen Kräfte einzusetzen. Beide fürchteten um ihr Leben, da sie in früheren Jahren Hexenverbrennungen erlebt hatten.
Crysania hatte genügend Verstand, um zu erkennen, daß ihr keiner der Männer oder keine der Familien, die mit der Armee zogen, zuhören würde; alle waren fest überzeugt, daß sie eine Hexe war. Dann war ihr die Idee gekommen, daß die Menschen ihr folgen würden, wenn sie auf solche stieß, die nichts von ihr wußten und denen sie ihre Geschichte erzählen und die Botschaft überbringen konnte, daß nicht die Götter die Menschen verlassen hätten, sondern die Menschen die Götter.
Aber erst Raistlins grobe, verletzende Worte hatten dazu geführt, daß sie den Mut zum Handeln gefaßt hatte. Auch jetzt noch, während sie im Zwielicht ihr Pferd durch den stillen Wald lenkte, konnte sie seine Stimme hören und seine funkelnden Augen sehen, als er sie erniedrigt hatte.
Ich habe es verdient, gestand sie sich ein. Ich habe meinen »Reiz« benutzt, anstatt Raistlin durch mein Beispiel zu Paladin zu bringen. Seufzend strich sie sich durch das wirre Haar. Ohne seine Willensstärke wäre sie gefallen.
Ihre bereits hohe Bewunderung für den jungen Erzmagier hatte sich vertieft – wie Raistlin vorausgesehen hatte. Sie beschloß, sich wieder seiner Achtung würdig zu erweisen. Denn jetzt mußte er eine sehr schlechte Meinung von ihr haben. Wenn sie mit einer Schar von Anhängern, von wahren Gläubigen, ins Lager zurückkehrte, konnte sie ihm nicht nur zeigen, daß er sich geirrt hatte, sondern sie hoffte auch, dann ihre Lehren in der Armee verbreiten zu können.
Mit diesen Gedanken und Plänen beschäftigt, fühlte sich Crysania mehr im Frieden mit sich, als es seit Monaten der Fall gewesen war. Zum ersten Mal machte sie wieder etwas Eigenständiges. Sie zottelte nicht mehr hinter Raistlin her oder wurde von Caramon herumkommandiert. Ihre Laune stieg. Nach ihren Berechnungen mußte sie das Dorf vor Einbruch der Dunkelheit erreichen.
Ihr Pfad hatte beständig aufwärts geführt. Jetzt erreichte er den Gipfel und fiel dann nach unten ab, in ein kleines Tal. Crysania hielt ihr Pferd an. Dort, ins Tal eingebettet, konnte sie endlich das Dorf sehen – ihr Ziel.
Etwas kam ihr an dem Dorf komisch vor, aber da sie es vor Einbruch der Dunkelheit erreichen wollte, ritt sie ohne Verzug den Berg hinab. Ihre Hand war um das Medaillon von Paladin geschlossen.
»Nun, was machen wir jetzt?« fragte Caramon, der auf seinem Pferd saß und den Fluß auf und ab sah.
»Du bist der Frauenexperte«, gab Raistlin zurück.
»Ist ja gut, ich habe einen Fehler gemacht«, murrte Caramon. »Das hilft uns jetzt aber auch nicht weiter. Es wird bald dunkel, und dann finden wir niemals ihre Spur... Ich habe von dir noch keine hilfreichen Vorschläge gehört«, fuhr er fort und warf seinem Bruder einen haßerfüllten Blick zu. »Kannst du nicht etwas herbeizaubern?«
»Ich hätte dir schon vor langer Zeit Verstand ›herbeigezaubert‹, wenn ich dazu in der Lage wäre«, erwiderte Raistlin gereizt. »Was soll ich denn deiner Meinung nach tun – soll ich sie aus der Luft erscheinen lassen oder sie in meiner Kristallkugel suchen? Nein, ich werde meine Kraft nicht verschwenden. Außerdem ist es nicht notwendig. Hast du eine Karte? Hast du es geschafft, soweit zu denken?«
»Ich habe eine Karte«, erwiderte Caramon grimmig, zog sie aus seinem Gürtel und gab sie seinem Bruder.
»Du könntest auch den Pferden Wasser geben«, sagte Raistlin und glitt von seinem Tier. Auch Caramon stieg ab und führte die Pferde zum Fluß, während Raistlin die Karte studierte.
Als Caramon die Pferde an einen Busch gebunden hatte und zu seinem Bruder zurückgekehrt war, ging die Sonne unter. Raistlin hielt die Karte dicht an seine Nase und versuchte, in der Abenddämmerung etwas zu erkennen. Er hustete und saß in seinem Reiseumhang zusammengekauert da.
»Du solltest nicht in der Nachtluft sein«, sagte Caramon mürrisch.
Raistlin hustete wieder und warf ihm dann einen verbitterten Blick zu. »Mit mir ist alles in Ordnung.«
Achselzuckend spähte Caramon über die Schulter seines Bruders auf die Karte.
Raistlin zeigte auf einen kleinen Fleck im Gebirge. »Dort«, sagte er.
»Warum sollte sie ausgerechnet einen dermaßen abseits liegenden Ort aufsuchen?« fragte Caramon stirnrunzelnd. »Das ergibt überhaupt keinen Sinn.«
»Weil du immer noch nicht ihre Absicht durchschaust!« erwiderte Raistlin. Nachdenklich rollte er die Karte zusammen; seine Augen starrten in das schwindende Licht. Eine dunkle Linie erschien zwischen seinen Augenbrauen.
»Nun?« fragte Caramon. »Was ist diese großartige Absicht, die du ständig erwähnst?«
»Sie hat sich in große Gefahr gebracht«, sagte Raistlin plötzlich, seine kühle Stimme färbte sich mit Zorn.
Caramon starrte ihn beunruhigt an. »Was? Wieso weißt du das? Siehst du...«
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