Sie standen draußen auf dem Gehsteig vor dem Haus der Ketterleys, und abgesehen davon, daß die Hexe, das Pferd und der Kutscher fehlten, war alles noch genauso, wie sie es zurückgelassen hatten. Da stand der Laternenpfahl, an dem ein Arm fehlte; da lag die zerschmetterte Droschke, und auch die vielen Leute standen immer noch herum. Sie redeten wild durcheinander, ein paar knieten neben dem verletzten Polizisten und sagten so Dinge wie „Er kommt zu sich" oder „Na, wie geht’s, guter Mann?" oder „Der Krankenwagen muß jeden Augenblick kommen.
Herr im Himmel! dachte Digory. Mir kommt es so vor, als habe das ganze Abenteuer überhaupt keine Zeit in Anspruch genommen.
Fast alle suchten verwirrt nach der Hexe und dem Pferd. Keiner achtete auf die Kinder, denn keiner hatte sie verschwinden oder wieder auftauchen sehen. Onkel Andrew hingegen konnte man sowieso nicht erkennen, so wie seine Kleider aussahen und mit all dem Honig auf seinem Gesicht. Glücklicherweise war die Haustür offen, denn dort stand noch immer das Dienstmädchen und schaute sich den Spektakel an. Also konnten die Kinder Onkel Andrew ins Haus schaffen, ohne daß irgendeiner irgendwelche Fragen stellte.
Onkel Andrew rannte wie der Blitz die Treppe hinauf. Zuerst befürchteten sie, er sei auf dem Weg zu seinem Arbeitszimmer und wolle die restlichen Ringe verstecken. Aber da hätten sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Er hatte nur die Flasche im Sinn, die in seinem Schrank stand, und er verschwand sofort in seinem Schlafzimmer und schloß die Tür hinter sich ab. Als er wieder herauskam – was eine Ewigkeit dauerte –, hatte er seinen Bademantel angezogen und ging schnurstracks auf das Badezimmer zu.
„Kannst du die anderen Ringe holen, Polly?" fragte Digory. „Ich will zu meiner Mutter."
„Klar. Bis später", sagte Polly und polterte die Treppe zum Dachboden hinauf.
Digory nahm sich eine Minute Zeit, bis er verschnauft hatte, dann ging er leise ins Zimmer seiner Mutter. Und da lag sie, so wie er sie schon oft gesehen hatte, mit Kissen im Rücken und mit einem so dünnen, blassen Gesicht, daß man fast weinen mußte, wenn man sie anschaute. Digory nahm den Lebensapfel aus der Tasche.
Und so wie Jadis, die Hexe, hier in unserer Welt ganz anders ausgesehen hatte als in ihrer eigenen, so sah auch dieser Apfel vom Hügelgarten hier bei uns völlig anders aus. Natürlich gab es alle möglichen bunten Dinge im Zimmer: den bunten Überwurf auf dem Bett, die Tapete und Mutters hübsches hellblaues Bettjäckchen. Doch all das schien zu verblassen, als Digory den Apfel aus der Tasche nahm, und an der Decke tanzten plötzlich wundersame Lichter, die von dem Apfel herrührten. Es lohnte nicht mehr, irgend etwas anderes zu betrachten, ja man hatte auch gar keine Lust dazu. Und der Geruch des Lebensapfels war so, als stünde eines der Fenster des Zimmers offen und führe geradewegs in den Himmel.
„Oh! Ist der herrlich, mein Liebling!" sagte Digorys Mutter.
„Wirst du ihn essen? Bitte!" sagte Digory.
„Ich weiß nicht, was der Arzt dazu sagen würde", antwortete sie. „Aber – ich meine fast, er könnte mir guttun."
Digory schälte und zerteilte den Apfel, und dann gab er ihr eine Apfelspalte nach der anderen. Und sobald sie alles aufgegessen hatte, lächelte sie, ihr Kopf sank aufs Kissen zurück, und sie schlief ein. Sie versank in einen natürlichen, sanften Schlaf, ganz ohne diese abscheulichen Medikamente. Und das war genau das, was ihr am meisten fehlte. Digory sah auch, daß sich ihr Gesicht ein kleines bißchen verändert hatte. Er beugte sich zu ihr hinunter, küßte sie sanft und schlich mit klopfendem Herzen aus dem Zimmer. Das Kerngehäuse des Apfels nahm er mit.
Jedesmal, wenn er an diesem Tag die Dinge anschaute, die ihn umgaben, und feststellen mußte, wie alltäglich alles aussah – ganz und gar ohne jegliche Zauberkraft –, wagte er kaum, Hoffnung zu schöpfen. Doch sobald ihm Aslans Gesicht einfiel, kam auch seine Hoffnung zurück.
Am Abend begrub er das Kerngehäuse im Garten.
Am nächsten Morgen, als der Arzt zu seiner täglichen Visite kam, beugte sich Digory über das Treppengeländer und lauschte. Er hörte, wie der Arzt mit Tante Letty zusammen aus dem Zimmer seiner Mutter trat und sagte:
„Miß Ketterley, das ist der außergewöhnlichste Fall in meiner ganzen medizinischen Laufbahn. Es ist – es ist wie ein Wunder. Zu dem kleinen Jungen würde ich allerdings noch nichts sagen; wir wollen ihm keine falsche Hoffnung machen. Aber meiner Meinung nach ... "
Dann wurde seine Stimme so leise, daß Digory ihn nicht mehr verstehen konnte.
Später ging Digory hinunter in den Garten und stieß den mit Polly vereinbarten geheimen Pfiff aus.
„Wie war’s?" fragte Polly, die über die Mauer lugte. „Ich meine mit deiner Mutter?"
„Ich glaube fast, daß alles gut werden wird", sagte Digory. „Aber ich möchte lieber noch nicht darüber reden, wenn es dir recht ist. Was ist mit den Ringen?"
„Hier sind sie", sagte Polly. „Keine Angst, ich hab’ Handschuhe an. Wir wollen sie vergraben."
„Ja. Ich habe die Stelle markiert, wo ich gestern das Kerngehäuse eingepflanzt habe."
Polly kam über die Mauer geklettert, und gemeinsam gingen sie zu der Stelle hin. Aber wie sich herausstellte, hätte sich Digory seine Markierung sparen können, denn da wuchs schon etwas. Zwar wuchs es nicht so schnell wie die neuen Bäume in Narnia, die man richtiggehend hatte wachsen sehen; aber immerhin war schon etwas zu sehen. Also holten sie eine kleine Schaufel und vergruben in einem Kreis drumherum alle Zauberringe – auch ihre eigenen.
Ungefähr nach einer Woche stand schon ziemlich fest, daß es Digorys Mutter besser ging. Zwei Wochen später war das ganze Haus völlig anders geworden. Tante Letty unternahm alles mögliche, um Digorys Mutter eine Freude zu machen: Fenster wurden geöffnet, Spitzenvorhänge wurden zurückgezogen, damit die Sonne herein – scheinen konnte, überall standen frische Blumen, es gab bessere Dinge zu essen, das alte Klavier wurde gestimmt, und Digorys Mutter begann wieder zu singen. Und sie spielte so ausgelassen mit Digory und Polly, daß Tante Letty sagte: „Ich muß schon sagen, Mabel, du bist das größte Kind von den dreien."
Wenn irgend etwas schiefgeht im Leben, dann wird es eine Zeitlang meistens schlimmer und schlimmer. Aber wenn die Dinge erst einmal anfangen, gut zu laufen, dann werden sie oft immer besser und besser. Nach ungefähr sechs herrlichen Wochen kam ein langer Brief von Digorys Vater aus Indien, und dieser Brief enthielt sehr gute Nachrichten. Der alte Großonkel Kirke war gestorben, was offensichtlich bedeutete, daß Vater jetzt sehr reich war. Er wollte in den Ruhestand treten und für immer nach Hause kommen. Das riesengroße Haus auf dem Land, von dem Digory schon viel gehört, das er aber nie gesehen hatte, sollte jetzt ihr Zuhause sein. Alte Rüstungen gab es dort, Stallungen, Hundezwinger, einen Fluß, einen Park, Gewächshäuser, Treibhäuser mit Weinreben, Wälder und Berge dahinter. Digory war ganz sicher, von nun an würden sie alle bis zum Ende ihrer Tage glücklich und zufrieden leben. Aber vielleicht interessiert euch ja auch, was sonst noch alles geschah.
Polly und Digory blieben immer gute Freunde, und fast jedesmal verbrachte Polly ihre Ferien mit Digory zusammen in diesem wunderschönen Haus auf dem Land. Dort lernte sie auch reiten und schwimmen, melken, backen und klettern.
Die Tiere in Narnia lebten glücklich und in Frieden, und viele Jahrhunderte lang kam weder die Hexe noch ein anderer Feind und störte sie in ihrem schönen Land. König Frank, Königin Heien und ihre Kinder lebten ebenfalls glücklich und zufrieden, und ihr zweiter Sohn wurde der König von Archenland. Die Jungen heirateten Nymphen, die Mädchen Wald- und Flußgötter. Die Laterne, die Jadis aus Versehen gepflanzt hatte, leuchtete bei Tag und bei Nacht, und so wurde dieser Wald, in dem sie stand, Laternendickicht genannt. Und als viele Jahre später ein anderes Mädchen aus unserer Welt nach Narnia kam – es war eine Winternacht und es schneite –, da brannte das Licht noch immer. Und auf gewisse Art und Weise hatte das Abenteuer, das dieses Mädchen erlebte, mit den Abenteuern in dieser Geschichte zu tun.
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