Zwar hörte Digory den Löwen nicht mehr, aber sehen konnte er ihn noch. Er war so riesig, und er leuchtete so, daß Digory die Augen nicht abwenden konnte. Die anderen Tiere schienen sich nicht vor dem Löwen zu fürchten. Genau in diesem Augenblick hörte Digory von hinten Hufgeklapper; einen Augenblick später trabte der alte Droschkengaul an ihm vorbei und gesellte sich zu den übrigen Tieren. Offensichtlich hatte ihm die Luft hier genauso gut getan wie Onkel Andrew. Er sah nicht mehr aus wie der arme, alte, versklavte Gaul – jetzt hob er ordentlich die Füße an und hielt den Kopf hoch aufgereckt. Der Löwe verstummte und begann, zwischen den Tieren auf und ab zu gehen, die sich paarweise – jeweils ein männliches und ein weibliches Tier zusammen – aufgestellt hatten Von Zeit zu Zeit trat er zu einem Tierpaar und rieb mit seiner Nase an den ihren. Von allen Dachsen berührte er also zwei, genauso hielt er es bei den Leoparden, bei den Hirschen und bei all den anderen. Einige Tierarten ließ er allerdings ganz außer acht. Die Paare, die er berührt hatte, verließen ihre Artgenossen und folgten ihm. Zuletzt blieb er reglos stehen, und all die ausgewählten Kreaturen umstanden ihn in einem weiten Kreis. Die anderen trollten sich nach und nach davon, und ihre verschiedenen Geräusche verklangen langsam in der Ferne. Die auserwählten Tiere verhielten sich vollkommen still, und alle hatten den Blick auf den Löwen gerichtet. Die katzenartigen Tiere zuckten ab und zu mit dem Schwanz, doch sonst rührte sich keiner. Zum ersten Mal an diesem Tag herrschte absolute Stille. Nur das Plätschern des Wassers war noch zu hören. Digory schlug das Herz bis zum Hals; er wußte, daß etwas Feierliches bevorstand. Seine Mutter hatte er nicht vergessen, aber er wußte, das, was hier stattfand, durfte er nicht unterbrechen, nicht einmal ihretwegen.
Ohne ein einziges Mal zu blinzeln, starrte der Löwe die Tiere so durchdringend an, als wolle er sie mit seinem Blick verbrennen. Nach und nach veränderten sie sich. Die kleinen – so wie zum Beispiel die Kaninchen und die Maulwürfe – wurden wesentlich größer, die großen wurden ein bißchen kleiner. Vor allem bei den Elefanten fiel das auf. Viele setzten sich auf die Hinterbeine, und die meisten legten den Kopf schief, so als müßten sie sich mächtig anstrengen, um zu verstehen, was da vor sich ging. Der Löwe öffnete das Maul, doch kein Ton kam heraus. Er stieß einen langwährenden warmen Atemzug aus, unter dem die Tiere sanft zu schwanken begannen wie Bäume im Wind. Hoch oben, hinter dem Schleier des blauen Himmels, begannen die Sterne wieder zu singen, mit einer reinen, kalten, schwierigen Melodie. Dann zuckte ein Strahl herab, so grell wie Feuer, doch er verbrannte keinen. Entweder der Himmel oder der Löwe hatte ihn ausgesandt. Die Kinder erschauerten, als die tiefste, wildeste Stimme, die je vernommen wurde, verkündete:
„Narnia, Narnia, erwache! Lieben sollst du. Denken. Reden. Den Bäumen sollen Füße wachsen, den Kreaturen Stimmen. Heilig seien deine Gewässer."
Der erste Witz und Anderes Mehr
Das war natürlich die Stimme des Löwen. Die Kinder hatten schon lange geahnt, daß er sprechen konnte; trotzdem war es ein herrlicher und schlimmer Schreck, als er es dann wirklich tat.
Zwischen den Bäumen trat ein wildes Völkchen hervor, Götter und Göttinnen des Waldes. Mit ihnen kamen Faune, Satyre und Zwerge, und aus dem Fluß erhob sich der Flußgott mit seinen Najadentöchtern. Und mit den verschiedensten Stimmen – laut und leise, hoch und tief – entgegneten sie gemeinsam mit den Tieren:
„Sei gegrüßt, Aslan. Wir hören und gehorchen. Wir sind erwacht. Wir lieben. Wir sprechen. Wir wissen."
„Aber viel wissen wir noch nicht", warf eine vorwitzige Stimme ein. Die Kinder fuhren zusammen. Es war die Stimme des Kutschergauls. „Guter alter Goldapfel", sagte Polly. „Ich freue mich, daß er zu denen gehört, die auserwählt wurden als sprechende Tiere." Und der Kutscher, der eben zu den Kindern getreten war, fügte hinzu: „Ich glaub, ich werd’ verrückt. Aber ich hab ja schon immer gesagt, daß der Gaul 'nen Haufen Grips hat im Hirn."
„Kreaturen, ich gebe euch euch selbst", sagte die mächtige, glückliche Stimme Aslans. „Ich gebe euch dieses Land namens Narnia für alle Zeiten. Ich gebe euch die Wälder, die Früchte, die Flüsse. Ich gebe euch die Sterne, und mich selbst gebe ich auch. Und auch die stummen Tiere die ich nicht auserwählt habe, sollen die euren sein. Behandelt sie gut und liebt sie, doch werdet nicht wieder wie sie, sonst seid ihr keine sprechenden Tiere mehr. Von ihnen seid ihr gekommen, und zu ihnen könnt ihr wieder werden. Doch davor solltet ihr euch hüten!"
„Ja, Aslan, das machen wir, das machen wir", sagten alle. Eine vorlaute Dohle fügte hinzu: „Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen!" Da alle anderen inzwischen verstummt waren, schallten ihre Worte laut durch die Stille. Sicher wißt ihr, wie peinlich so etwas sein kann. Die Dohle war so verlegen, daß sie den Kopf unter die Flügel steckte, als wolle sie schlafen. Und alle anderen Tiere stießen die verschiedensten komischen Geräusche aus – sie lachten. Doch so etwas wurde hier in unserer Welt natürlich noch nie gehört. Zuerst versuchten sie, ihr Gelächter zu unterdrücken, doch Aslan sagte:
„Lacht nur und fürchtet euch nicht, ihr Kreaturen. Jetzt, wo ihr nicht mehr stumm seid und ohne Verstand, braucht ihr nicht mehr unentwegt ernst zu sein. Denn Witz und Gerechtigkeit gehen Hand in Hand mit der Sprache."
Also lachten sie alle frei heraus, und bei all der Fröhlichkeit schöpfte die Dohle wieder Mut. Sie setzte sich auf den Kopf des Droschkenpferds, genau zwischen die beiden Ohren, schlug mit den Flügeln und sagte:
„Aslan! Aslan! Habe ich den ersten Witz gemacht? Wird es bis in alle Ewigkeit jeder erfahren, daß ich den ersten Witz gemacht habe?"
„Nein, kleiner Freund", entgegnete der Löwe. „Du hast nicht den ersten Witz gemacht, du warst der erste Witz." Jetzt lachten alle noch mehr als zuvor, aber das störte die Dohle nicht. Sie lachte ebenso laut mit, bis das Pferd den Kopf schüttelte und sie herunterfiel. Erst bevor sie am Boden auftraf, fiel ihr wieder ein, daß sie ja Flügel hatte. Daran hatte sie sich nämlich noch nicht so recht gewöhnt.
„Und nun ist Narnia entstanden", sagte Aslan. „Als nächstes müssen wir uns Gedanken machen, wie wir es schützen können. Ich werde einige von euch zu einem Rat einberufen. Kommt her zu mir: du, oberster Zwerg; du, Flußgott; du, Eiche, und du, männliche Eule; ihr beiden Raben und du, Elefantenbulle. Wir müssen uns beraten. Diese Welt ist zwar noch keine fünf Stunden alt, und doch ist schon das Böse hier eingezogen."
Die ausgesuchten Tiere traten vor, und gemeinsam mit ihnen wandte sich der Löwe nach Osten. Die anderen begannen wild durcheinanderzuplappern: „Was hat er gesagt, wer da eingezogen sei in unsere Welt? – Eine Blöße? – Was ist eine Blöße? – Nein, er hat nicht Blöße gesagt, sondern Klöße! – Tja, und was könnte das wohl sein?"
„Hör mal, Polly", sagte Digory. „Ich muß ihm nachgehen – dem Löwen, meine ich. Ich muß mit ihm reden."
„Meinst du, das geht?" sagte Polly. „Das würde ich mich nicht trauen."
„Ich muß es tun", antwortete Digory. „Wegen meiner Mutter. Wenn es jemanden gibt, der ihr noch helfen kann, dann ist er es."
„Ich komm mit", erklärte der Kutscher. „Der Löwe gefällt mir. Und ich glaub kaum, daß uns die ander’n Viecher an den Kragen wollen, außerdem würd’ ich gern mit meinem Gaul ein Wörtchen reden."
Also faßten alle drei Mut und machten sich auf den Weg. Die versammelten Tiere waren so sehr damit beschäftigt, sich zu unterhalten und Freundschaften zu schließen, daß sie die drei Menschen erst bemerkten, als diese schon ganz in ihrer Nähe standen. Auch Onkel Andrew schienen sie nicht zu hören, der ein Stückchen weiter mit zittrigen Beinen dastand und laut – aber nicht allzulaut – rief:
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